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Quelle: Widerständig – streitbar – revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen. Herausgegeben von der Frauenbeauftragten des Landkreises Böblingen, Böblingen 1999, S 202-209 Autorin: Dr. Helga Hager | ||||
Bild: Irene Schaible, geb. Binder (links) und eine Schulkameradin als Konfirmandinnen. (Foto: I. Schaible) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern
„Aber d’Lebensmittelbranche isch immer weiter gange:
Bei Nacht hot ma g’lade, und bei Nacht, um drei, viere, bin i uff mei Fahrrädle nuff-g’sesse, bin über Ehninge, Aidlinge heimg’fahre, dass e hon könne schlofe.“
Aufregende Nachtschichten und Heimfahrten gehörten zur Normalität der Lehrzeit Luise Schaibles (geb. Binder) in den Jahren 1942 bis 1944. Sie hatte die Aufgabe, in kürzester Zeit die Bestellungen mit den Ladungen abzugleichen und die Rechnungen zu schreiben, um sie dann dem Fahrer mitgeben zu können. Die Umstände der Zeit stellten besondere Anforderungen an die „Auszubildende“: Sie musste selbstständig und eigenverantwortlich arbeiten sowie sich schnell an die wechselnden Gegebenheiten anpassen.
Bild: Der Lebensmittelladen in Lehenweiler (Foto: I. Schaible) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern „wenn ma dehoim a Lebensmittelg’schäft und a Wirtschaft hot“Die Idee, diesen Berufsweg einzuschlagen, kam von den Eltern. Die Familie betrieb in Lehenweiler eine Gastwirtschaft, die gleichzeitig ein Ausflugslokal für Wanderer war, sowie einen Lebensmittelladen; den dritten Erwerbszweig bildete die Landwirtschaft. Luise Schaible wie auch ihre vier Schwestern haben hier schon früh eigene Aufgabenbereiche übernommen. Und so sollte die kaufmännische Ausbildung letztlich auch dem elterlichen Geschäft zugute kommen. Die Verwirklichung dieses Berufszieles war jedoch keineswegs selbstverständlich. Luise Schaible glaubt, dass ihre Einstellung nur deshalb zustande gekommen ist, weil sich die Eltern und die Familie Kriegbaum durch die geschäftlichen Beziehungen persönlich kannten; damals habe Emil Kriegbaum die Lebensmittelläden auf den Dörfern teilweise noch selbst besucht. Vor allem dürfte ihr der Krieg indirekt mit zur Lehrstelle verholfen haben, da es an männlichen Bewerbern mangelte. „Des war en Einbruch bei Kriegbaum“ – der erste weiblicher Lehrling Sie war unter ihren Altersgenossinnen in Lehenweiler die einzige, die eine Lehre absolvierte. Schon der lange Anfahrtsweg von etwa 13 km erforderte besondere Anstrengungen:
„Ich musste – do isch jo koi Bus und nicks g’fahre – jeden Tag, und des morgends um sechs Uhr scho, mit em Fahrrad noch Aidlingen. Wenn i de Postbus vertwischt hon, no war’s reacht, und wenn en net vertwischt hab, no bin e noch Böblinge mit em Fahrrad g’fahre.
Das Geschäftshaus nebst Lagergebäude stand in der Karlsstraße. Die Zahl der Beschäftigten bewegte sich zwischen 30 und 40, wobei die Fluktuation auf Grund der Einberufungen recht groß war.
Dass sie im Betrieb eine Ausnahme darstellte, ist Luise Schaible erst anhand eines praktischen „Problems“ bewusst geworden. So konnte sie die Vesperpausen nicht gemeinsam mit der übrigen Belegschaft im Aufenthaltsraum verbringen, da ein Zusammensein mit lauter Männern nicht vorstellbar gewesen wäre. Sie fühlte sich jedoch privilegiert, da sie sich mehr kaufmännisches Wissen aneignen konnte als ihre männlichen Kollegen, die die fehlenden Arbeitskräfte zu ersetzen hatten. Allerdings gehörte zu deren Ausbildung auch der Außendienst, der für sie nicht vorgesehen war.
Bild: Wohn- und Geschäftshaus der Familie Kriegbaum in der Böblinger Karlsstraße. (Aus: 50 Jahre Kriegbaum 1919-1969, Böblingen o. J., Vorlage: I. Schaible) „Des war allgemein bei Kriegbaum, dass‚ so familär zugange isch“Das „familiäre“ Verhältnis zwischen den Beschäftigten stellt im Rückblick ein prägendes Element der Ausbildung dar. Auch im Privatkontor, wo sie unmittelbar mit Emil Kriegbaum und seiner Tochter zusammenarbeitete, habe kein hierarchisches Klima geherrscht. Das Privatkontor war Teil der Privatwohnung. Hier hatte sie unter anderem die Aufgabe, die Verhandlungen des Chefs mit den Erzeugern zu protokollieren: „Binder (Geburtsname), schreib“, habe es immer geheißen. Dass sie gegenüber dem Chef auch einmal ein offenes Wort wagte, verweist zugleich auf die Herkunft: Das Ausflugslokal und der Lebensmittelladen waren Orte des öffentlichen Lebens, an denen sie soziale Kompetenz erworben hat. Die Begegnung mit Kunden und vor allem mit Gästen – es seien „unheimlich interessante“ Leute gekommen – erweiterte den persönlichen Horizont. Zugleich vermittelte der gehobene Status eines Geschäftshaushaltes von vornherein Selbstbewusstsein. Einmal, so erinnert sie sich, habe sie ihm empfohlen, für den Besuch auf dem Landratsamt eine Krawatte anzulegen. Daraufhin habe er ihr erwidert: „Aber Binder, i bin de Kriegbaum mit und ohne Krawatt.“ Berufsschulunterricht im Ausnahmezustand: „die hen koine Schreibmaschine und nicks me ghet“ So breit gefächert die Ausbildung in der Praxis war, so fragmentarisch verlief zeitweise der theoretische Unterricht in der Berufsschule. Das Fach Englisch wurde nicht mehr weitergeführt. Das Schreibmaschinenschreiben fiel aus, da die Maschinen konfisziert waren; daraufhin ging sie auf Kosten der Firma in die Privathandelsschule Zeile nach Sindelfingen. Vor allem jedoch konnte sie die Endprüfungen nicht mehr ordnungsgemäß ablegen, da sich die Termine bei der Handelskammer Stuttgart auf Grund der Luftangriffe immer wieder verschoben. „Die hond ihr Christelebe ausg’lebt“ - Gesten der Menschlichkeit im Krieg Neben praktischer und theoretischer Ausbildung stellten Erfahrungen existentieller Natur ein drittes Lernfeld dar:
„Wenn i dradenk, an d’Frau Kriegbaum, wo de erschte Angriff war: Die isch in d’Waschküch gange und hot a Großküche aufg’macht, und hot emol kocht für alle, wo komme sind und hungrig waret. ... Die hond ihr Christelebe wirklich ausg’lebt. Die hond’s vorg’lebt.“....
Solche Gesten der Menschlichkeit haben sich Irene Schaible für immer ins Gedächtnis eingeschrieben.
„Des hot oim mehr Selbstbewusstsein gebracht. Ohne Zweifel. Also, des war mir scho immer bewusst. I kann was tun!“ ...
Ihr wäre die Fabrikarbeit zu monoton gewesen. Sie habe von ihrem Büro aus beobachten können, wie die Frauen in der Lenzschen Strickwarenfabrik hin- und hergewirkt hätten. Dabei sei ihr bewusst geworden, dass es ihr im Vergleich dazu „gut gehe“. Sie habe „gern g’lernt“!
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