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„...der idealste Büstenhalter der Zeit“

Die Mechanische Trikotweberei Ludwig Maier und Cie. AG

Quelle: Die Industrialisierung in Böblingen, in: Böblingen – Vom Mammutzahn zum Mikrochip. Im Auftrag der Stadt Böblingen herausgegeben von Sönke Lorenz und Günter Scholz, Böblingen 2003, S. 297 – 301

Autor: Dr. Günter Scholz
„Hautana“ – der Name des 1912 von der Mechanischen Trikotweberei Ludwig Maier und Cie. entwickelten Büstenhalters wurde zum Synonym für eines der wichtigsten Kapitel der Böblinger Industriegeschichte. Lesen Sie hier einen Auszug aus der 2003 erschienenen neuen Stadtgeschichte „Vom Mammutzahn zum Mikrochip“ von Dr. Günter Scholz:

Bild rechts: Hautana – Werbeprospekt (Foto: Stadtarchiv Böblingen)

Der Firmengründer war ein Sohn des ersten Stuttgarter Rabbiners Joseph von Maier (1799-1873). 1878 trat Lyon Sussmann als Teilhaber in das Unternehmen ein, das sich 1886 in Böblingen ansiedelte. In der Folgezeit führte Sussmann die Firma zu Weltrang.

Lyon Sussmann wurde 1843 in Tauberbischofsheim geboren und entstammte einer der ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Baden. Der Vater, Moses Sussmann, betrieb dort einen Kolonialwarenhandel. Der Sohn - Erstgeborener in einer kinderreichen Familie - besuchte anderthalb Jahre lang das Progymnasium seiner Geburtsstadt. 1869 war er in Stuttgart Teilhaber des Kurz- und Strumpfwarengeschäftes „en gros" Sussmann und Adler.

Bild links: Die im Stil einer schlossähnlichen Dreiflügelanlage errichteten Werksanlagen der Böblinger Hautana (1924) auf einem Firmenprospekt. (Foto: Stadtarchiv Böblingen) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Der „Hautana"-Büstenhalter
Das unternehmerische Erfolgsrezept von Lyon Sussmann in Böblingen bestand vorrangig in der Produktion des Büstenhalters: „In erster Linie ist zu nennen der von [der Firma] im Jahre 1912 erfundene und seit dieser Zeit sprichwörtlich gewordene ,Hautana Büstenhalter' aus elastischem Trikotgewebe direkt auf der Haut zu tragen, von jeder Dame als der idealste Büstenhalter der Zeit begehrt und bevorzugt" — rühmte das Stuttgarter Neue Tagblatt in den zwanziger Jahren. Mit dem Hautana-Büstenhalter lag das Unternehmen ganz im Trend der Zeit: Um 1900 war das Korsett, das bis dahin über den weiblichen Körper regiert hatte, zunehmend verpönt. Nicht nur Mediziner wetterten gegen das gesundheitsschädigende Gerüst. Auch der Protest der Frauenbewegung richtete sich gegen dieses Symbol weiblicher Freiheitsbeschränkung. Damit tat sich eine Marktlücke auf, galt es doch nach Abschaffung des Korsetts dennoch der Büste behutsam Form um Halt zu geben. Der Hautana-Büstenhalte ging auf eine Erfindung von Sigmund Lindauer aus Cannstatt zurück und wurde rasch zum Marktführer. Außerdem produzierte die Hautana hochwertige Unterwäsche und später auch Bademoden.

Für Böblingen brachte der Ausbau der Hautana eine erhebliche Vergrößerung des Angebotes an Arbeitsplätzen, vor allem für Frauen. Der Anteil an weiblichen Arbeitskräften betrug in der Trikotfabrik bis zu 85 Prozent. Sie zählte 1904 ca. 250 und 1910 ca. 300 Beschäftigte. 1910/11 wurde ein Neubau errichtet, der auch das bisher in Stuttgart befindliche Hauptkontor aufnahm. Bis 1925 wuchs die Belegschaft auf ca. 500 an. Hinzu kamen zahlreiche Heimarbeiterinnen. So war die Hautana bis in die 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts der größte Arbeitgeber in Böblingen. Bereits 1912 unterhielt die Firma eine Filiale in London. Ihre internationale Verflechtung zeigt sich auch daran, dass bereits vor dem Ersten Weltkrieg die Hälfte der Produktion in den Export ging.

Bild: Leon Sussmann im Kreise der Hautana-Belegschaft. Das Foto entstand anlässlich seines 85. Geburtstages. (Foto: Stadtarchiv Böblingen) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Der Ehrenbürger Sussmann
In „Anerkennung seiner besonderen Verdienste um die Entwicklung der hiesigen Industrie" wurde Lyon Sussmann am 29. Oktober 1913 am Vorabend seines 70. Geburtstags von der Stadt Böblingen die Ehrenbürgerwürde zuerkannt.

Sussmann war nicht nur eine Unternehmerpersönlichkeit mit wirtschaftlichem Weitblick, sondern zugleich mit einer ausgeprägten sozialen Einstellung. So war er auf die Errichtung von gesunden und freundlichen Arbeitsplätzen bedacht. Zugleich schuf er für die damalige Zeit vorbildliche Sozialeinrichtungen. Der Krankenunterstützungskasse der Firma ließ er finanzielle Zuwendungen zukommen. Die 1911 eröffnete Werkskantine lobte der „Böblinger Bote" als eine „Wohlfahrtseinrichtung in des Wortes vollster Bedeutung." Die Belegschaft konnte dort zu einem selbst für damalige Verhältnisse niedrigen Preis ein warmes Mittagessen erhalten. Auch für günstige Fahrverbindungen der Pendler setzte sich Sussmann ein.

Arbeitsjubilare wurden mit Geldgeschenken bedacht. Auch an seinen Familienfesten ließ er die Belegschaft teilhaben. Zur Hochzeit seines Sohnes veranstaltete er 1910 für die Angestellten ein Festessen im „Hotel Zimmermann", das übrige Personal erhielt ein Geldgeschenk. Zu Weihnachten versammelte er sich mit den Betriebsangehörigen unter dem Weihnachtsbaum.

Zugleich hat sich Sussmann durch ein vielfältiges karitatives Engagement über die Werksgrenzen hinaus verdient gemacht. So übernahm er im Ersten Weltkrieg Patenschaften über Kriegswaisen. In den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Krieg half er, wo immer er konnte. Zum Beispiel hat er den Bau des 1925 eröffneten Kindergartens in der Herrschaftsgartenstraße kräftig unterstützt. Auch bei der von Schultheiß Georg Kraut 1925 ins Leben gerufenen Wintersammlung zeigte sich Sussmann spendenfreudig. Rückblickend rühmte Kraut: „Die Böblinger Industrie hat sich ein Ruhmesblatt in der Geschichte Böblingens durch Stiftung der Mittel zu diesem Winterhilfswerk erworben." Sogar zur Renovierung des Christophorusbrunnens am Markt wandte sich Kraut an Sussmann, der dafür 1.000 Mark beisteuerte. Finanziell unterstützt hat Sussmann außerdem die Freiwillige Feuerwehr und eine Reihe von Vereinen. Dem „Turnverein 1845" gehörte er als Ehrenmitglied an.

Drittes Reich
Vom „Dritten Reich" erlebte Sussmann noch die Anfänge. Die immer härtere Verfolgung der jüdischen Mitbürger im Gefolge der „Nürnberger Gesetze“ vom September 1935 und die so genannte „Reichskristallnacht“ blieben ihm erspart. Am 8. Februar 1935 ist er gestorben. An der Beisetzung ihres hoch verdienten Ehrenbürgers auf dem Stuttgarter Pragfriedhof nahm kein offizieller Vertreter der Stadt Böblingen teil. Als „Privatmann“ – wie er beteuerte – und sich im Hintergrund haltend war der bald von den Nationalsozialisten aus dem Amt verdrängte Schultheiß Kraut unter den Trauergästen. Sussmanns Lebenswerk wurde beschlagnahmt, „arisiert“ – wie es in der nationalsozialistischen Propagandasprache hieß. Seit 1981 sind die markanten Werksanlagen der Hautana aus dem Stadtbild verschwunden. Die 1993 benannte Lyon-Sussmann-Straße und die „Hautana“-Passage erinnern heute an die industriegeschichtliche Bedeutung des einstigen Unternehmens.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Herausgeber.

„Hautana“ nach 1945
Die Schwiegertochter und Enkel Leon Sussmanns emigrierten im 3. Reich nach England. Nach dem Wiederaufbau der im 2. Weltkrieg stark zerstörten Fabrikanlagen beschäftigte das Unternehmen um 1960 wieder 450 Angestellte. Später wurde die Produktion auf die Hulb verlagert und 1979 eingestellt.

Die neue Böblinger Stadtgeschichte „Vom Mammutzahn zum Mikrochip“, wurde 2003 von Sönke Lorenz und Günter Scholz herausgegeben und erschien zum Preis von 35,80 € im Markstein-Verlag Filderstadt. (ISBN 3-935129-09-2)

Stadt Böblingen

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