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Wie ein Sindelfinger den Böblingern zu weltweitem Forscherruhm verhalf

Karl Ganzhorn und das IBM Forschungslabor auf dem Schönaicher First

Quelle: Böblingen macht: Lebensgeschichte(n). Sonderveröffentlichung der Kreiszeitung/Böblinger Bote „750 Jahre Böblingen“, 2003

Autor: Karl Kühnle

Bild: Prof. Karl Ganzhorn, Gründer des IBM-Labors in Böblingen. (Quelle: IBM)

Eigentlich war schon alles klar: der frischgebackene Doktor sollte nach seinem Studium zum Daimler gehen: Das war mir aber nicht ganz geheuer, was soll ich als Physiker bei einer Autofirma? Wie gut dass Karl Ganzhorn da abends vor der Uni von einem Unbekannten abgepasst wurde. Er sei doch der Herr Ganzhorn, und ob er sich denn vorstellen könne, bei der IBM zu arbeiten? Nun war das auch eine Sindelfinger Firma. Und nach einigen Gesprächen willigte der 31-Jährige ein. Die Firma hat damals eine visionäre Entscheidung getroffen: Sie hat die vollständige Umwandlung der Datenverarbeitung durch Elektronik erkannt und sich entschieden, in ganz Europa Kompetenz für Elektronik aufzubauen. Der Sindelfinger Karl Ganzhorn war der Mann der ersten Stunde und legte den Grundstein für das, was heute, im Jubiläumsjahr der Stadt Böblingen, selbst seinen 50. Geburtstag feiert: das IBM Forschungs- und Entwicklungszentrum am Schönaicher First. Das einzige, das heute noch außerhalb der USA in Europa Zentralprozessoren für Computer entwickeln kann, wie Ganzhorn mit leisem Stolz anmerkt.

Was natürlich auch sein Verdienst ist. Doch dem Sohn einer Webers war es keinesfalls an der Wiege gesungen, ein Forschungslabor aufzubauen und die rasante Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung in Deutschland entscheidend mit zu prägen. Der Vater, beschäftigt bei Zweygart & Sawitzki, war ein armer Schlucker, aber er tat alles, dass es seine beiden Söhne besser haben sollten. Doch nach dem Abitur am Goldberg-Gymnasium 1939 zwang der Krieg den jungen Mann auf einen Umweg: Aus zwei Jahren Militärdienst wurden acht Jahre, vier Jahre Krieg und vier Jahre Gefangenschaft. Nach der Gefangennahme durch die Engländer wurden die deutschen Offiziere der französischen Fremdenlegion unter de Gaulle überstellt. Im Atlasgebirge wurden die ehemaligen Angehörigen des Afrikakorps als Faustpfand gefangen gehalten. Doch Ganzhorn blickt auf diese Zeit ohne Zorn zurück. Im Gegenteil: „Ich möchte sie nicht missen“, auch wenn es nichts zu essen gab, er auf 45 Kilogramm abmagerte. Doch in der alten Kaserne der Fremdenlegion legte er den Grundstein für seine Karriere. Nach einem Jahr sorgte eine Delegation des amerikanischen CVJM, des YMCA, dafür, dass der Grundbestand einer deutschen Uni-Bibliothek in Kopie den Weg in die Wüste fand. Die älteren Stabsoffiziere, zum Teil mit akademischer Bildung, zogen einen regelrechten Lehrbetrieb auf, „bis hin zu Sanskrit“, lacht Ganzhorn heute. Mit durchschlagendem Erfolg. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft schrieb sich Ganzhorn an der Stuttgarter Uni ein. Und legte gleich zu Beginn die Vordiplomprüfung in Mathematik ab. Physikprofessor wollte er werden, der 27-Jährige, der in seinem eingefärbten Armeemantel vier Jahre mit dem Bus nach Stuttgart fuhr und samstags stets hoffte, das die Nachhilfeschüler am Samstag auch zahlten, damit es für die Busfahrkarte reichte.

Bild: Im ehemaligen Gebäude der Klemm-Flugzeugfabrik in Böblingen (sog. „Klemmbau“, 1978 abgerissen) hatte nach dem Krieg die IBM Deutschland für einige Jahre ihre Hauptverwaltung eingerichtet. (Foto: StadtA Böblingen)

Doch sein Professor riet ihm ab, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Dazu sei er zu alt. So griff Ganzhorn zu, als er von der IBM damals ein Gehalt von 750 Mark in Aussicht gestellt bekam. „Meine Kollegen als promovierte Physiker verdienten 400 Mark“, wusste er das Geld ebenso zu schätzen wie die Freiheit. Machen Sie Physik für IBM, der Rest ist Ihre Sache, lautete sein Auftrag, als er seinen Holzschreibtisch im alten Klemm-Gebäude an der Sindelfinger Straße in Böblingen bezog. Wir schauten mal in der Firma rum, wo Elektronik Sinn machen könnte. Geld verdiente die IBM damals mit Lochkartenmaschinen. Viel Geld. Und so zeigte sich IBM-Gründer T. J. Watson ebenso angetan wie spendabel, als er auf Deutschland-Besuch 1953 einem Vortrag von Ganzhorn gelauscht hatte: „Geben Sie diesem jungen Mann, was er wünscht“. Die sechs Leute um den Physiker konnten loslegen, das Labor war geboren.

Bild: IBM Entwicklungszentrum auf dem Schönaicher First. (Quelle: IBM)

Noch war es allerdings nicht auf dem Schönaicher First. Doch 1958 wurde der Sindelfinger offiziell Leiter des deutschen Entwicklungslabors. Die Suche nach einem Bauplatz begann. Nachdem aber in Sindelfingen bereits eine Fabrik von IBM stand, sollte es Böblingen sein, weil es eine mündliche Zusicherung der Firmenleitung gab, dass beide Städte gleichmäßig von der Gewerbesteuer profitieren sollten. Also suchte Ganzhorn in Böblingen, obwohl am Tag nach der firmeninternen Entscheidung zum Bau eines Labors beide Stadtbauämter bei Ganzhorn anriefen und Flächen offerierten. Da standen die Diezenhalde ebenso zur Debatte wie das Gelände an er Stuttgarter Straße, wo heute Freibad und Thermalbad stehen. "Da ich aber alles flach bauen sollte, so dass man eventuell eine Fabrik andocken konnte, entschied ich mich für den Schönaicher First". Ab dieser Zeit musste Ganzhorn nicht mehr nur Physik machen, sondern auch Produkte entwickeln. Mit dem 360/20-Rechner gelang dies denn auch. Da waren wir plötzlich salonfähig, erinnert er sich an die Skepsis der Amerikaner, für die ein Labor in Deutschland so unnötig wie ein Loch im Kopf war. Da waren es in Böblingen schon 400 Leute, die die Köpfe rauchen ließen. Und Ganzhorn wurde zum Direktor der Laboratorien in Deutschland, Österreich und Schweden. Und Mitglied der Geschäftsführung der IBM Deutschland für Entwicklung und Forschung. Zahllose wissenschaftliche Berufungen, ein Lehrauftrag an der Uni Karlsruhe kamen hinzu, vor allem aber war Ganzhorn von 1969 bis 1971 Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, gehörte dem Wissenschaftsrat von 1978 bis 1987 an. Und beförderte da besonders die Informatik. Das Große Bundesverdienstkreuz am Bande war ein Dankeschön dafür.

Doch auf solche Auszeichnungen legt er weniger Wert. Wichtig war ihm, dass er sich nicht verbiegen ließ. Und dass er im Zweifel stets auf den Rat seiner Mutter gehört hat, anständig mit Leuten umzugehen. Ganzhorn sagte dem IBM-Chef ebenso offen seine Meinung wie er mit offenem Visier einen seiner besten Leute nach Böblingen holte. Dem Vorgesetzten von Otto Folberth bei Siemens in München sagte er gradheraus, dass er diesen Forscher abwerben wolle. Bevor er ihn selbst fragte. Dass es heute so nicht mehr zugeht, bedauert er. Wie er sich über manche aktuellen Polit-Debatten amüsieren kann: Diese Sorgen möchte ich haben. Mit dem Blick auf vier Jahre Gefangenschaft im Atlasgebirge relativiert sich eben vieles.

Mit freundlicher Genehmigung der Kreiszeitung / Böblinger Bote

Internet-Links:
IBM Deutschland
Computermuseum München

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