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Mauren 1940: Else von Löwis of Menar protestiert gegen das nationalsozialistische Euthanasieprogramm

Quelle: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag Sindelfingen 1999

Foto: Else von Löwis of Menar wandte sich 1940 mit einem mutigen Brief gegen die Euthanasie. (Foto: Privat/Krohmer/z)

Im Jahre 1940 schrieb Else von Löwis of Menar (1880 - 1961) einen Protestbrief gegen die Euthanasie. Ungewöhnlich war, dass die Kritik am Mord an Behinderten aus den Reihen der Nationalsozialisten kam: Die Adelige war Führerin der NS-Frauenschaft im Kreis Böblingen.

Else von Löwis of Menar verfasste ihren Brief im November 1940. Das Schreiben schickte sie an Walter Buch, Oberster Richter der NSDAP. Die Adelige, die im Maurener Schloss lebte, kannte den Richter persönlich über ihren Vater: Alexander Freiherr von Dusch war badischer Staatsminister gewesen. Else von Löwis of Menar adressierte den Brief an Frau Buch, die ihn an ihren Mann weiterleiten sollte.

In dem Brief weist sich Else von Löwis of Menar als überzeugte Nationalsozialistin aus: "Mein Vertrauen auf eine siegreiche Überwindung aller Schwierigkeiten und Gefahren, die sich dem ‚größeren Deutschland' auf seinem Weg entgegengestellt haben, ist bis jetzt durch nichts erschüttert worden, und ich habe mich im Glauben an den Führer unbeirrt durch alle Dickichte gekämpft".

Aber was sie jetzt erfahren habe, habe ihr "den Boden unter den Füßen weggezogen". Noch auf einer Arbeitstagung auf der Gauschule in Stuttgart sei ihr Mitte Oktober versichert worden, nur bei "absoluten Kretinen" werde die Euthanasie angewendet. "Jetzt ist es ganz unmöglich, diese Version noch irgendeinem Menschen glaubhaft zu machen, und die absolut sicher bezeugten Einzelfälle schießen wie Pilze aus dem Boden", schreibt Else von Löwis of Menar.

In Grafeneck auf der Alb spiele sich eine Tragödie ab. Sie betreffe alle unheilbar Geisteskranken, aber auch Epileptiker. "Und die Bauern auf der Alb, die auf ihrem Feld arbeiten und diese Autos vorbeifahren sehen, wissen auch, wohin sie fahren und sehen Tag und Nacht den Schornstein des Krematoriums rauchen".

Das öffentliche Geheimnis erzeuge auf der Alb ein Gefühl entsetzlicher Unsicherheit. Als "unerhört und nicht wiedergutzumachenden Fehler" stuft sie ein, dass man den Leuten zumute, "an die mysteriöse Seuche zu glauben, der ihre Angehörigen zum Opfer gefallen sein sollen".

Die Führerin der NS-Frauenschaft im Kreis Böblingen spricht sich nicht grundsätzlich gegen Euthanasie aus. Sie fordert aber, dass das Recht über Tod und Leben zu entscheiden, "gesetzlich streng festgelegt und mit höchster Gewissenhaftigkeit ausgeübt wird, wenn nicht den gefährlichsten Leidenschaften und dem Verbrechen Tür und Tor geöffnet werden soll". Von jeher sei es eine beliebte Methode gewesen, sich unbequemer Verwandtschaft dadurch zu entledigen, dass man sie für verrückt erklärt und im Irrenhaus untergebracht habe.

"Vor das Ohr des Führers"
Wider besseren Wissens glaubt sie, dass Adolf Hitler vom Töten der Geisteskranken nichts wisse: "Die Sache muss vor das Ohr des Führers gebracht werden, ehe es zu spät ist". Sie fürchtet, dass "es sich einmal schwer rächen würde, wenn man das gesunde Gefühl des Widerstandes gegen diese Vorgänge im Volk abstumpfen und zum Schweigen bringen wollte; es ist das Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, ohne das ein Volk unweigerlich auf die schiefe Bahn gerät".

Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, der den Brief 1964 interpretiert hat, schreibt, dass es einem linientreuen Nationalsozialisten den Atem beim Lesen dieser Zeilen verschlagen musste. Zwar billigte man Kritiken aus den eigenen Reihen zu, dass man auf Grund gemeinsamer Überzeugungen und Ziele Missstände beseitigen und Schaden abwehren musste. Ungefährlich war der Brief indes nicht. Walter Buch versicherte in seinem Begleitbrief an Reichsminister Heinrich Himmler, die Briefschreiberin hänge "glühend" an der Bewegung" und er bürge für sie "ganz und gar".

Sie sei sich des Risikos bewusst gewesen, sagt Alexandra Krohmer, Enkelin von Else von Löwis of Menar. Ihre Großmutter und deren Schwester Gretel von Dusch lebten nach dem ersten Weltkrieg in Mauren. Nach dem Brief habe Gretel von Dusch "mit der Browning unter dem Kopfkissen geschlafen". Eine "kämpferische Natur" sei Else von Löwis of Menar nicht gewesen, der Brief von daher eher ungewöhnlich: Aber auf Grund ihres Wertesystems hatte sie Zivilcourage".

Politisch fehlgeleitet
Sie sei eine schöngeistige Natur gewesen, die Klassiker in der Originalsprache las. Dass Else von Löwis of Menar Anhängerin des Nationalsozialismus war, war innerhalb der Familie umstritten. "Für mich ist es unverständlich, wie ein intelligenter Mensch politisch so fehlgeleitet wurde", sagt Alexandra Krohmer heute.

Der Brief von Else von Löwis hatte Folgen. Am 19. Dezember 1940 schrieb Heinrich Himmler an den zuständigen Stabsleiter bei Reichsleiter Bouhler. Darin verfügte er, die Anstalt Grafeneck einzustellen und "allenfalls in einer klugen und vernünftigen Weise aufklärend zu wirken, indem man gerade in der dortigen Gegend Filme über Erb- und Geisteskranke laufen lässt". Sein Motiv war aber nicht, die Euthanasie zu verurteilen, sondern dass darüber zuviel an die Öffentlichkeit gelangt war.
Der Brief von Else von Löwis of Menar als pdf-Dokument

Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung

Literaturhinweise:
Ein Protestbrief gegen die "Euthanasie" im Jahre 1940
Kommentiert von Dr. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen
In: Aus Schönbuch und Gäu. Beilage des Böblinger Boten 11/1964

Thomas Stöckle
Grafeneck 1940
Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland
Silberburg-Verlag, Tübingen 2002

Unterrichtsmaterialien:
"Euthanasie" im NS-Staat - Grafeneck im Jahr 1940"
Historische Darstellung, Didaktische Impulse, Materialien für den Unterricht.
Erschienen in der Reihe Bausteine: Texte und Unterrichtsvorschläge, herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 2000. In Zusammenarbeit mit dem Oberschulamt Tübingen.


Heimatgeschichtsverein Ehningen
Gemeinde Ehningen

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