| ||||
Quelle: Stuttgarter Nachrichten vom 10. November 1989, S. 3 | ||||
Stuttgart – Baden Württemberg am 9. November 1989: In Biberach läuft ein Zug mit 720 DDR-Übersiedlern aus Prag ein, in Stuttgart kommen Waggons mit Deutschen aus dem Osten an, in Rathäusern begehren Menschen Aufnahme. Szenen, die sich täglich wiederholen. Allein in der laufenden Woche rechnet man im Südweststaat mit der Ankunft von 6.000 Übersiedlern. Seit Jahresanfang waren es – zusammen mit den Aussiedlern – 50.000 Männer, Frauen und Kinder, die untergebracht werden müssen. Diese Aufgabe aber fällt den vier Regierungspräsidien immer schwerer.
Die Übergangswohnheime platzen aus allen Nähten, Waldheime sind überbelegt, Hotels und Pensionen ausgebucht. „Die Entwicklung ist dramatisch“, stellt der Leiter des Eingliederungsreferats im Tübinger Regierungspräsidium, Rainer Hummel, fest. Der Stuttgarter Pfarrer Martin Friz, der Übersiedler im Feuerbacher Waldheim betreut, warnt gar vor dem „Unterbringungs-Kollaps“. Der Ausnahmezustand ist zum Regelfall geworden. In vielen Gemeinden des Landes wird der Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten verwaltet. “Die Situation wird immer schlimmer“, weiß Christian Steger, Hauptgeschäftsführer des baden-württembergischen Gemeindetages. Es ist nicht so sehr die Erstunterbringung, die Kopfzerbrechen bereitet. Vielmehr stellen die Verantwortlichen vor Ort inzwischen fest, dass der Übergang von den Heimen und Notunterkünften in ein längerfristiges Wohnverhältnis ins Stocken geraten ist. Das spürt auch Martin Friz: “Angebote von Arbeitgebern, die zugleich auch Wohnraum offerierten, gibt es so gut wie nicht mehr. Wir bewegen uns am Rande der Katastrophe.“ Im Innenministerium gibt man sich optimistisch Trotz dieser kritischen Stimmen vor Ort sind die Verantwortlichen im baden-württembergischen Innenministerium optimistisch. Für Ministeriumssprecher Rainer Knubben ist klar: „Den Quartiermachern fällt noch viel ein.“ Das Gejammere mache man nicht mit. Die Möglichkeiten seien noch lange nicht erschöpft. Seit einer Besprechung des Krisenstabs am Sonntag hat die Behörde die „zweite Unterbringungsphase“ eingeleitet. „Wir brauchen nun große Lösungen“. Konkret heißt das: Die Regierungspräsidien greifen nun auch auf Turnhallen zurück, stehen in Verbindung mit Schullandheimen und Jugendherbergen. Rainer Knubben: „Da muss dann halt mal ein Aufenthalt ausfallen“. Auch Kasernen will das Innenministerium für die Aufnahme von DDR-Übersiedlern rüsten. Gefordert wird zudem die Hilfe der im Land stationierten Franzosen, Amerikaner und Kanadier. die Verhandlungen zeigen erste Erfolge: In Donaueschingen haben die US-Militärs eine Kaserne für den Übersiedlerstrom geöffnet. Bei den Helfern vor Ort allerdings ist die Hoch- und Aufbruchsstimmung längst verflogen. Martin Friz: „Jetzt muss man weiterdenken. Es ist nicht damit getan, die Leute einfach nur zu verstauen. Sie brauchen Wohnungen und sie brauchen Betreuung. Wir aber driften immer mehr in eine Massenabfertigung ab“. Rainer Hummel befürchtet zudem „Unmut gegenüber den Neubürgern“, wenn Turnstunden, Vereinsabende oder der Aufenthalt in Schullandheimen auf Dauer beschnitten werden. Christian Steger vom baden-württembergischen Gemeindetag teilt diese Bedenken und attestiert der Landesregierung Handlungsbedarf. „Sie kann und muss den Zustrom der Übersiedler besser lenken“. Derzeit gingen zu viele Menschen in die hoffnungslos überlasteten Ballungsräume. „Im ländlichen Raum sind die Chancen größer“. Im Innenministerium jedoch bleibt man dabei: Es werde getan was nötig ist. Knubben: „Wir haben bereits im September mit dem Bau von Behelfsunterkünften für 3.000 Menschen begonnen, 3.000 weitere folgen“. Die Kapazitäten der Übergangswohnheime würden auf 22.000 Plätze aufgestockt. Längerfristig erhofft sich Innenminister Dietmar Schlee Entlastung von einer geänderten Version seiner Idee von der „Aussiedlerstadt“. Anfang der Woche hat das Kabinett für die Schaffung von acht bis zehn neuen Stadtteilen grünes Licht gegeben. Das sind drastische Schritte, die zeigen, das hinter der hoffungsfrohen Fassade auch den Verantwortlichen im Ministerium klar ist: „Es wird eng“. | ||||
Mit freundlicher Genehmigung der Stuttgarter Nachrichten
Diese Seite drucken |
||||
|