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Quelle: Stuttgarter Nachrichten, Dienstag, 14. November 1989, S.3 Autorin: Birgit Seger | ||||
Stuttgart – Die unerwartete Öffnung der Berliner Mauer und die Schaffung mehrerer Durchlässe in der übrigen „Zonengrenze“ hat in Ost und West die gleiche Hoffnung entstehen lassen: dass der Strom der Flüchtenden versiegt und sich womöglich zahlreiche abgewanderte DDR-Bürger zur Rückkehr entschließen. Zumindest in Berlin hat die Sozialsenatorin Ingrid Stahmer bereits erste Anzeichen dafür ausgemacht, dass Flüchtlinge „in großer Zahl“ in die Heimat zurück wollen. In den Notunterkünften für Übersiedler „überlegen immer mehr Menschen, ob sie in die DDR oder Ost-Berlin zurückkehren wollen. Menschen verlassen die Turnhallen mit ihrer Habe und kommen nicht wieder. In den Unterkünften wird lebhaft diskutiert, heißt es in Berlin. Sollte sich dieser Trend bestätigen, würde das für die DDR bedeuten, dass das Vertrauen in die Reformen des neuen Staats- und Parteichefs Egon Krenz langsam wächst und die Öffnung der Grenzen Früchte zu tragen beginnt. Angesichts der Situation in den hoffnungslos überfüllten Notaufnahmelagern wäre eine Rückreisewelle auch im Westen höchst willkommen. Allein in Berlin sind 27.000 Übersiedler aus der DDR zumeist in qualvoller Enge untergebracht. Allerdings kann man zum Beispiel in Baden-Württemberg noch keine Entwarnung geben. Ein Rückreise-Trend zeichnet sich hier noch nicht ab. „Die haben ein abgrundtiefes Misstrauen gegen alles was mit der DDR zusammenhängt, weiß der Stuttgarter Pfarrer Martin Friz, der Übersiedler in einem Waldheim des Stuttgarter Stadtteils Feuerbach betreut. Um den Menschen den Entschluss zur Heimkehr zu erleichtern, hat das Deutsche Rote Kreuz bereits am Sonntag in Bonn mit der Ständigen Vertretung der DDR einige entscheidende Vereinbarungen getroffen. Dabei sagte die DDR zu, dass Rückkehrer nicht bestraft würden und dass sie ihr Eigentum zurückerhalten würden. „Bürgern, die in die DDR zurückkehren, wird bevorzugt bei der Vermittlung einer Wohnung geholfen, und es wird die Rückkehr an den alten Arbeitsplatz ermöglicht“, erläutert Rolf Herzbach vom DRK-Präsidium in Bonn. Zur unbürokratischen Abwicklung der Einreise von Rücksiedlern richtete die DDR vier Stellen in Hirschberg, Warta, Marienborn und Zarrenthin ein. Hier erhalten die einstigen Übersiedler auch ihre neuen Personalausweise der DDR. Nach Möglichkeit sollen sie ihre alten Wohnungen zurückerhalten. Der Erlös aus bereits enteignetem Eigentum liegt auf Sperrkonten bereit und soll nun den Rückkehrern zugute kommen. Wurden beispielsweise Möbel verkauft, so können von diesem Geld neue angeschafft werden. Im September und Oktober registrierte der DRK-Bundesverband 560 Rückkehrwillige. „Seit Öffnung der Grenzen haben sich die Anfragen verstärkt“. Wie viele von der neuen Regelung Gebrauch machen, ist noch nicht bekannt. Zu einer Massenrückreise führt sie aber sicherlich nicht, gibt sich Herzbach vorerst skeptisch. „Die DDR geht davon aus, dass die Bürger auf eigene Kosten zurückkehren. Ihre Habe, die sie in der Bundesrepublik erworben haben, dürfen sie zollfrei mit über die Grenze nehmen“, so der Kenntnisstand von Udo Barske, Pressesprecher des DRK-Landesverbands Baden-Württemberg. Der mit der DDR erarbeitete Katalog werde nun an die Beratungsstellen der Kreisverbande geschickt. Erst wenn die DDR-Flüchtlinge die Einzelheiten kennen, werde man sehen, wie viele tatsächlich zurück wollen. Im Gegensatz zu Auskünften des Bonner Innenministeriums, das in den letzten Tagen „einen leichten Trend zur Rückkehr“ verspürt zu haben glaubt, verzeichnet das Regierungspräsidium Karlsruhe bis zum Montagnachmittag 700 Neuzugänge. Pressesprecher Hansjörg Wahl: „Das sind zwar weniger als am Sonntag, jedoch bei weitem mehr, als durchschnittlich seit Öffnung der ungarischen Grenze kamen“. Bislang waren es täglich 220 Personen. In Baden-Württemberg wachsen die Notunterkünfte vorerst weiter „wie Pilze aus dem Boden“.
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Mit freundlicher Genehmigung der Stuttgarter Nachrichten
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