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Ein deutsches Datum

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Quelle: Stuttgarter Nachrichten, Samstag, 11. November 1989

Autor: Jürgen Offenbach (Chefredakteur)
Szenen, die sich nicht in Worte fassen lassen: Da erhebt sich nach der unglaublichen Nachricht von der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze am Abend des 9. November der Deutsche Bundestag von den Plätzen und stimmt die Nationalhymne an. Da verlässt ein vor Bewegung weinender Brandt den Plenarsaal in Bonn, während auch an den Grenzübergängen in Berlin die Freudentränen fließen. Deutsche-Ost und Deutsche-West liegen sich in den Armen. Sie tanzen auf der Mauer, die sie nicht mehr trennt. Sie feiern eine lange gesamtdeutsche Nacht, den Kurfürstendamm hinauf und hinunter. Dieser 9. November 1989, der historische Gegentag zum gescheiterten Volksaufstand am 17. Juni 1953, ist ein Freudentag. Ein deutsches Datum, ein Markstein in der europäischen Geschichte.

Der „Mantel der Geschichte“ umweht uns nicht nur, er erschlägt uns beinahe. Alle jahrzehntealten deutschlandpolitischen Positionen sind Makulatur, am meisten bei denjenigen Politikern und Parteien, die sich besonders beflissen mit der deutsch-deutschen Grenze abfinden wollten. Nicht nur die DDR, auch die Bundesrepublik ist nach diesem 9. November 1989 nicht mehr das, was sie vorher war. Die „deutsche Frage“ hat weltpolitische Aktualität gewonnen. Und die Deutschen, die nach 1945 fast ein halbes Jahrhundert lang mit ihrem Nationalgefühl schwer getan haben, sind über Nacht in einen gewaltigen Sog nationaler Emotionen geraten. Ein neues Kapitel beginnt.

Mit unglaublichen Sprüngen, nach vorne versucht sich die SED an die Spitze der Entwicklung zu stellen: Mit der Öffnung der Grenzen, neuen Übergängen in Berlin, dem Angebot einer „demokratischen Koalitionsregierung“ und der Ankündigung freier Wahlen. Diese sensationellen Beschlüsse, die im Stundentakt aufeinander folgten, werden das darniederliegende Vertrauen der Bevölkerung etwas festigen. Zugleich werden sie den Demokratisierungsprozess weiter beschleunigen. Die freien Wahlen aber werden unweigerlich den Niedergang der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zur Folge haben, das Ende ihres Machtmonopols, vermutlich auch ihrer Regierungsmacht. (Die Teilhabe an der Regierung nach polnischem Muster, wird eher bleiben). Der tiefe Sturz der SED ist die unausweichliche Quittung für 40 Jahre kommunistischer Diktatur – auch das gehört zur dramatischen Gesetzmäßigkeit dieser Tage.

Wichtig auch: Das neue Reisegesetz kann nicht mehr hinter die Praxis dieser Tage zurückgedreht werden. Die deutsche Grenze wird offen bleiben; die Mauer ist seit vorgestern nur noch Mahnmal einer 28jährigen Einkerkerung. Doch gerade die offene Grenze wird die zentrale Triebfeder weiterer Veränderungen sein. An ihr definiert und strukturiert sich Deutschland seinen beiden Teilen neu. Das beginnt mit dem hautnahen und bedrückenden Problem der mittlerweile 240.000 DDR-Übersiedler, die ja seit Öffnung der ungarischen und tschechoslowakischen Grenze keine Flüchtlinge mehr sind. Wird der Zustrom abflauen? Fürs erste wohl schon. Aber auch die Situation der Übersiedler bei uns dürfte auf mittlere Sicht so widersprüchlich werden, wie es die Lage insgesamt ist. So werden wir wahrscheinlich ein Stadium des Hin- und Hergerissenseins vieler Übersiedler erleben, mit der Folge, dass zwar immer noch Tausende zu uns kommen, aber auch viele Tausende aus der Drangsal ihrer öden Notunterkünfte zurückkehren werden. Viel Entwurzelung und Unbehaustsein wird auf der Straße dieser vielen Hin- und Her- Wanderungen liegen.

Wenn unser Zustand der nationalen Erregung abgeklungen ist, wenn uns der Alltag mit seinem nüchternen Blick wieder eingeholt hat, dann wird man auch einige Vorschläge der letzten Tage mit Vorsicht bewerten. Als illusorisch dürfte sich die Empfehlung nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten erweisen, der meinte, die Bundesrepublik solle der DDR „ohne Bedingungen“ helfen. Wenig sinnvoll ist auch der Vorschlag von Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, für die DDR-Wirtschaft in der Bundesrepublik eine Sondersteuer zu erheben. Die Erkenntnisse, die sich im Hinblick auf die UdSSR auf Polen und Ungarn bei uns durchgesetzt hat – nämlich dass sich diese Länder zuerst einmal selber helfen müssen – wird am Ende auch für die DDR gelten. Und helfen in einem zukunftsträchtigen, tragfähigen Sinne kann ohnehin nicht die Bundesregierung, also der Staat. Helfen kann auch hier nur die westliche Wirtschaft, wenn sie mit großen Investitionen in die DDR hinein geht.

Das führt zu dem nächsten großen Kapitel im atemberaubenden deutschen Wandlungsprozess dieser Tage. Nach dem nationalen Hochgefühl über die politische Befreiung wird das nächste Problem wie ein Berg vor uns stehen: die akute Gefahr des Wirtschaftsbankrotts, eines Kollaps’ der Infrastruktur der DDR. Schon heute kann man sagen, dass nicht nur die UdSSR und Polen, sondern auch die DDR vor einem harten Winter stehen. Denn das wachsende Aufbegehren seit September hat die ostdeutsche Wirtschaft mächtig zurückgeworfen; die Produktivität ist gewaltig abgesackt. So werden die Regale in den Läden bald noch leerer sein, bei gleichzeitiger Einsicht der massenhaft reisenden DDR-Bevölkerung, dass das Leben im Westen unvergleichlich komfortabler ist. Die Ost-Mark wird noch mehr als wertloses Papier empfunden werden, mit der man weder richtig reisen noch richtig kaufen kann. Die Folge dieser schmerzlichen Einsichten – die einen kleiner gewordenen Übersiedlerstrom dann leicht wieder anschwellen lassen können – wird eine Währungsdiskussion sein, die Frage nach der Konvertibilität der Ost-Mark. Auch eine Währungsunion und eine Währungsreform werden zur Debatte stehen, die uns freilich – man denke nur an die „Umschreibung“ der niedrigen DDR-Renten (zwischen 400 und 1000 Mark) auf West-Währung und West-Niveau – schnell an die Grenze der Unbezahlbarkeit bringen würden. Zu den Finanzthemen der nächsten Zeit wird auf bundesdeutscher Seite auch das Begrüßungsgeld zählen, das sich – wenn sechs bis zehn Millionen DDR-Bürger pro Jahr zu uns kommen – rasch auf Milliardenbeträge summiert. Angesichts einer daniederliegenden DDR-Wirtschaft wird sich dann die berechtigte Frage stellen, ob die im Augenblick so hilfreiche Reise- und Besuchsfinanzierung von DDR-Bürgern mit Bonner Milliarden auf Dauer nicht eine zwar schöne aber keineswegs vorrangige Ausgabe ist. Doch zunächst einmal müssen die 17 Millionen Menschen in der DDR ihren eigenen politischen Weg in freien, demokratischen Wahlen selbst bestimmen. Dabei könnte sich herausstellen, dass sie in ihrer Wirtschafts- und Sozialordnung nicht wie die Bundesrepublik sein wollen. Falls die Mehrheit der Wähler in der DDR, wie etwa Bärbel Bohley und ihr „Neues Forum“, eine Art „dritten Weg“ einschlagen wollen – der wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Sachgasse führt - , dann haben sie das Recht zu diesem Weg. (Man unterschätze nicht die Angst vieler DDR-Bürger vor der reichen Bundesrepublik, vor ihrem Arbeitsdruck und Alltagsstress, was sozusagen die Schattenseite der „westdeutschen Anziehungskraft ist). Eine „marktorientierte Planwirtschaft“ wie sie neuerdings auch dem SED-Wirtschaftswissenschaftler Professor Otto Reinhold vorschwebt, würde allerdings die Investitionsbereitschaft westlicher Unternehmen nachhaltig dämpfen.

Der größte Wunsch aus 40 Jahren Nachkriegsgeschichte wird, so scheint es, bald in Erfüllung gehen: Dass die Deutschen in der DDR frei sind. Dass sie durch offene Grenzen reisen und in demokratischen Wahlen ihre Regierung bestimmen können, genauso wie wir. Wenn dieses Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR erreicht ist, so ist auch das Wichtigste im Sinne der Präambel unseres Grundgesetzes erreicht: Das Miteinander der Deutschen in Freiheit ist dann zu gleichen Normalität geworden wie das Miteinander der anderen Westeuropäer. Wie sich letzter Konsequenz die beiden deutschen Staaten zueinander entwickeln, ob sie in Zweierformation verbleiben wollen oder sich zur nationalstaatlichen Einheit zusammenfinden, ist eine nachgeordnete Frage. Es ist vor allem eine Frage von Jahren, die auch die Alliierten und unsere europäischen Nachbarn mit betrifft, und dafür brauchen wir Zeit und Geduld.

Mit freundlicher Genehmigung der Stuttgarter Nachrichten

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