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SED-Funktionäre: Abriss der Mauer in Berlin schon bald denkbar

Die DDR öffnet ihre Grenzen

Ausreisen über alle Übergänge – Ansturm noch am Abend – Bald freie Wahlen?

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Quelle: Stuttgarter Nachrichten, Freitag, 10. November 1989
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Bild: Zeitungsausgabe des Textes aus den Stuttgarter Nachrichten vom Freitag, 10. November 1989. Klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Sindelfingen (ans). „Mich ärgert es, wenn die Leute sagen, wir Flüchtlinge bekämen es hinten und vorne reingesteckt. Wir bezahlen genauso wie andere auch.“ Für das 14 Quadratmeter große Zimmer im Daimler-Wohnheim Niederer Wasen kassiert das Land Baden-Württemberg 270 Mark monatlich von Familie Gräber – ein stolzer Preis für einen Raum mit zwei Doppelstockbetten der Jugendherbergsklasse, viel alten Stühlen inklusive Küchen- und Duschen-Mitbenützung. Auf der grau-braunen Daimler-Benz Sindelfingen Decke sitzt ein quitte-gelber Plüsch-Teddy, am Fenster blüht eine Kalanchoe. Wohnlich wird dieses Zimmer trotzdem nie sein können. Doch Ingrid Gräber, die wir gestern im Sonderwohnheim besucht haben, ist zufrieden: „Wir können uns gar nicht beschweren. Andere müssen in Wohnwagen oder in Containerdörfern leben.“

Gräbers wohnen seit Oktober in der Bundesrepublik. Ingrid und Jörg Gräber gehören mit ihren beiden Kindern, dem vierjährigen Christian und der fünfjährigen Marie, zu den berühmten Prager Botschaftsflüchtlingen. Damals stand auf Flucht noch Gefängnis und der Familie saß die Angst im Nacken, erwischt zu werden. Den erlösenden Auftritt des Außenministers haben sie hautnah miterlebt. „Hans-Dietrich Genscher ist zwei Meter dicht an mir vorbeigelaufen.“ Marie hat in Prag einen Ball geschenkt bekommen, „den hütet sie wie eine heilige Reliquie“, und ihre Mutter denkt bewegt an den Empfang auf dem Hammelburger Bahnhof zurück: „so eine menschliche Wärme, so eine Herzlichkeit habe ich noch nie gespürt.“

Die Familie wurde in eine Kaserne einquartiert, bekam Handtücher, Jogging-Anzüge und Hosen für die Kinder. Aus Karl-Marx-Stadt, das früher Chemnitz hieß, konnten sie in einem Koffer und einer kleinen Reisetasche ja nur das Nötigste mitbringen. Eine Woche später mussten sie ins Rastatter Lager – „dort war alles kaputt und total verdreckt, aber wir mussten glücklicherweise bloß ein Wochenende“ bleiben – und seit dem 9. Oktober leben sie in ihrem Zimmer im Niederen Wasen. Mit ihrem Geld gehen sie sparsam um, haben ein 800 Mark teures Auto einen kleinen Radiorecorder und einen Wecker gekauft.

Ingrid und Jörg Gräber wussten was nach der Flucht auf sie zukommt. Das Leben im Ungewissen deprimiert sie kaum. „So hochgeschraubt sind unsere Erwartungen auch nicht. Arbeit und Wohnung – wenn das geklärt ist, findet sich das andere schon. Dann können wir auch wieder beginnen, richtig zu leben“. Doch ihren beiden Kindern fällt das neue Leben „unheimlich schwer, weil sie alles nur gefühlsmäßig verstehen. Sie sind völlig aus ihrer Bahn geschmissen“.

Die Kleinen leiden an Heimweh. Gräbers haben alle Verwandten und Freunde zurückgelassen, womit die Erwachsenen leichter fertig werden; Christian fragt ständig nach seiner Kusine Julia. Die Kinder vermissen auch ihre Spielkameraden aus der Kinderkrippe. Es fällt ihnen schwer, den ganzen Tag im Wohnheim zu spielen. Aber einen Platz im Kindergarten bekommen Marie, Christian und meisten anderen Kleinen vom Niederen Wasen nicht. Eine Mitbewohnerin hat Ingrid Gräber im Gang erzählt, dass Gräbers erst eine feste Wohnung haben müssen, bis sie die Kinder anmelden können.

„Die Eltern passen gegenseitig auf ihre Kinder auf – nur ein Beispiel für die Hilfe untereinander -, doch eine Lösung ist das nicht. Auf dem Arbeitsamt baten sie, eine Kindergartengruppe im Niederen Wasen zu eröffnen. „Wir wollten die Kindergärtnerin auch selbst bezahlen.“ Die Beamten winkten ab: Das Wohnheim sei ja nur eine Übergangslösung, deshalb würde die Arbeit der Kindergärtnerin rechtlich nicht anerkannt.

Mütter wie Ingrid Gräber werden dadurch besonders benachteiligt. Weil sie ihre Kinder einhüten müssen, können sie nicht arbeiten und bekommen auch kein Arbeitslosengeld, sondern nur Sozialhilfe. Drei Jahre lang hat sie Heimerziehung mit der Fachrichtung Musik studiert, ist als Erzieherin für Horte, Kinderheime und Schwererziehbarenheime und als Musiklehrerin in der Grundschule qualifiziert. In der DDR hat die 25jährige bis zum letzten Tag gearbeitet, hier bekommt sie 370 Mark Sozialhilfe im Monat. „Arbeiten gehen möchte ich auf jeden Fall wieder. Ich mache auch eine Weile etwas anderes, ich könnte zum Beispiel im Altersheim arbeiten. Das stört mich nicht.

Ihr Mann, der 270 Mark Arbeitslosengeld wöchentlich bekommt, hat sich gestern bei Mercedes Benz als Kraftfahrzeugschlosser beworben. Der 25jährige arbeitete in der DDR auch als Kraftfahrer und belieferte die Erdgas-Trasse in der Sowjetunion. 30 Stellenangebote hat er schon bekommen, denn Facharbeiter werden heiß umworben.

Bei der Such nach einer Wohnung bläst Gräbers jedoch wie allen anderen der Wind ins Gesicht. „Drei Räume würden uns schon genügen, denn zu Hause haben wir sehr beengt in zwei Räumen gelebt.“ Drei Briefe liegen auf dem Fensterbrett, 30 andere hat Ingrid Gräber schon erfolglos abgeschickt, von den zahllosen Anrufen bei Vermietern ganz zu schweigen. Es ist ein Gerücht, dass Übersiedler bevorzugt würden. „Wir reihen uns hinten an.“

Familie Gräber wird in der Bundesrepublik bleiben, auch wenn die DDR reformiert wird. Die Entwicklung der letzten Tage hat alle im Wohnheim überrascht: „So voll war der Fernsehraum noch nie. Es ist wirklich unfassbar und jetzt werden sicher viele zurückkehren. Aber für uns hat sich das erledigt. Wir müssten auch in der DDR wieder von vorne anfangen. Dann schon lieber hier.“

Mit freundlicher Genehmigung der Stuttgarter Nachrichten

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