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Supermächte: Wiedervereinigung nicht dringlich

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Quelle: Stuttgarter Nachrichten, Donnerstag, 16.November 1989, Seite 1
WASHINGTON/MOSKAU – Der rasante Wandel in Osteuropa hat die beiden Supermächte rund drei Wochen vor ihrem Gipfel im Mittelmeer zu neuen außenpolitischen Überlegungen veranlasst.

Wie der Sprecher des Weißen Hauses, M. Fitzwater, am Dienstag in Washington mitteilte, wird derzeit die amerikanische Außenpolitik „großangelegt“ überprüft. Dies betreffe vor allem die Ost-West-Beziehungen und die Zukunft der Nato und Warschauer Pakt. Diese Themen seien im Übrigen dringlicher, als der Gedanke einer Wiedervereinigung. Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow sagte, die Wiedervereinigung stehe derzeit nicht auf der Tagesordnung. Darüber zu reden, wäre „eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ der Bundesrepublik und der DDR. Er sprach sich klar gegen eine Wiederverreinigung aus. Die Teilung sei eine historische Realität. Moskau forderte die Regierungschefs der EG auf, bei ihrem Gipfel am Samstag in Paris die Unverrückbarkeit der deutschen Grenzen festzuschreiben. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger erwartet „in den nächsten drei bis vier Jahren die Defacto-Wiedervereinigung Deutschlands.“

Absage
Es fällt den beiden Supermächten offensichtlich schwer, vom „Geist von Jalta“ Abschied zu nehmen. Auf Jalta bestimmten sie, was in Europa zu geschehen hat. Das wollen sie offenbar auch künftig tun. Anders jedenfalls ist es nicht zu verstehen, dass nicht nur Moskau, sondern ausdrücklich auch Washington jetzt die Frage der Wiedervereinigung in weite Ferne gerückt hat. Kremlchef Gorbatschow mag man die Absage noch nachsehen. Er hat im Augenblick ganz andere Probleme, als sich um die Einheit Deutschlands zu kümmern. Allerdings muss er sich schon dran erinnern lassen, dass er noch am 13. Juni in der mit Bundeskanzler Helmut Kohl unterzeichneten „gemeinsamen Erklärung“ das Recht aller Völker anerkannt hat, ihr Schicksal frei zu bestimmen. Ist das fünf Monate später schon Makulatur?

Viel weniger noch aber kann die amerikanische Haltung akzeptiert werden. Washington hat sich in Verträgen und vielen Abkommen mit der Bundesrepublik dazu verpflichtet, auf die Einheit Deutschlands hinzuwirken. Auch haben die Vereinigten Staaten immer wieder in der Welt das Selbstbestimmungsrecht der Völker angemahnt. Gilt das nun alles nicht mehr, seit die Menschen in der DDR dabei sind, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Die Wiedervereinigung steht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht unmittelbar vor der Tür. Es ist auch völlig offen, ob die Deutschen sie überhaupt wollen und auf welchem Wege sie sie erreichen. Aber von den Weltmächten, schon gar von unseren Verbündeten, kann verlangt werden, dass sie zu ihren vertraglichen Zusagen stehen. Sonst werden sie unglaubwürdig.

Heinz-Peter Finke, Bonn
Mit freundlicher Genehmigung der Stuttgarter Nachrichten

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