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Die Stunde der Wahrheit

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Quelle: Sindelfinger Zeitung, Samstag, 11.November 1989, S. 11

Autor: Jürgen Haar
Einer findet es „unheimlich spannend“, eine kann es schön nicht mehr hören, andere fühlen sich von der sich stündlich veränderten Lage „schlichtweg überrollt“. Während aber in der DDR weiter die Ungewissheit regiert, schlägt in der Bundesrepublik die Stunde der Wahrheit. Jetzt, wo viele ihre Zukunft im Westen suchen, wird sich zeigen, ob Deutsche den Deutschen helfen oder nicht. All die gutgemeinten Ratschläge an die Adresse der Brüder und Schwestern im anderen Teil Deutschlands und die sich überschlagenden Meldungen über das Schlaraffenland Bundesrepublik kommen jetzt auf den Prüfstand.

Zu Zeiten des kalten Krieges und vor Gorbatschow haben es sich die „Westler“ oft zu einfach gemacht. Zu Weihnachten schnürte man ein Paket mit Kaffee, Strumpfhosen, ausgemusterten Jeans, Schokolade und schon fühlte man sich als reicher Onkel aus Amerika. Zum 60. Geburtstag von Tante Gretel zog man sich auch noch ein paar Tage den real existierenden Sozialismus rein, mit anschließendem Besuch der Semper-Oper in Dresden.

Zurück im „goldenen Westen“ war man für Tage die Nummer eins am Stammtisch, schließlich wollte jeder mit dem 17-Millionen-Volk in der „sowjetisch besetzten Zone“ mitleiden und gierte nach der brandaktuellen Grusel-Story vom Grenzübergang Herleshausen/Eisenach. So gesehen, war die Deutsche Demokratische Republik für die meisten Bundesbürger Ausland, außerdem noch verstehen mit dem Makel, dass an der Grenze Deutsche von deutschen Volkspolizisten „wegen Republikflucht“ erschossen wurden.

So mancher entdeckte aus der Kombination von Mauer, Stacheldraht und Tretminen aber auch einen stabilisierenden Faktor der Weltpolitik. Quer durch Deutschland vollzog sich nicht nur die deutsche Teilung, sondern auch die Trennung von Ost und West in Nato und Warschauer Pakt.

Jetzt, wo die Mauer in ihren Grundfesten zerstört ist, wird sich zeigen, ob wir Deutschen im Westen eine Solidar-Gemeinschaft sind oder doch eine Ellenbogen-Gesellschaft, die täglich mehr Egoisten produziert. Schon nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten die Deutschen zusammenstehen, zusammenrücken (!), um in großer Not überleben zu können. Heute haben wir erneut die Chance, unter wesentlich günstigeren Bedingungen, Gemeinsinn unter Beweis zu stellen.

In Freiheit lässt sich leicht reden, denn kaum einer von uns musste in den letzten vier Jahrzehnten mit Zensur, Vopos und Demonstrationsverbot leben. Das Ende der Mauer an der deutsch- deutschen Grenze ist für Menschen in der Bundesrepublik die größte Herausforderung der Nachkriegszeit.

Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung

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