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Auf die DDR-Wirtschaft warten gewaltige Anstrengungen

SPD-Politiker Bülow legt „erschreckende“ Maßnahmeliste vor – Wie beseitigt man die Bürokrakten-Hydra?

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Quelle: Stuttgarter Nachrichten, Dienstag, 14. November 1989, S.2

Autor: Gunther Hartwig
BONN - Noch bevor sich die Ereignisse in der DDR überschlugen, hat der frühere Bundesforschungsminister Andreas von Bülow in einem 35-Punkte-Papier beschrieben, wie die östlichen Volkswirtschaften – also neben der DDR auch die UdSSR, Polen und Ungarn – dem drohenden Ruin entkommen könnten. Er nennt seine Maßnahmenliste selbst „erschreckend, weil sie zeigt, wie tiefgreifend die Umwandlung sein muss und wie fast übermenschlich alle Anstrengungen zur Überwindung der Hindernisse sein müssen“.

Der gebürtige Dresdner von Bülow, der als Verteidigungsexperte seiner Fraktion mit einem Konzept zur „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ in Ost und West Aufmerksamkeit erreichte, legte sein Umbauprogramm zunächst namhaften Spitzenmanagern der deutschen Wirtschaft vor, darunter Edzard Reuter (Daimler AG), Carl H. Hahn (VW), Alfred Herrhausen (Bundesbank), Dieter Spethmann (Thyssen), Detlev Karsten Rohwedder (Hoesch) und Manfred Lahnstein (Bertelsmann). Als deren Urteil „sehr interessant bis ohne Einschränkung positiv“ (von Bülow) ausfiel, machte sich der 52jährige auf in die DDR, um dort in dieser Woche mit Reformkräften aus der SED und der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) über seine Vorschläge zu reden. Begleitet wird von Bülow vom SPD-Wirtschaftsexperten Wolfgang Roth.

Ausgehend von den Erfahrungen mit der Währungsreform 1948 in den drei damaligen Westzonen, hält der 52jährige Politiker einen ähnlich harten Schritt im Finanzsystem der DDR und der anderen Ostblockstaaten für unabweisbar. In allen sozialistischen Wirtschaften, so heißt es in dem Papier, bestehe ein „riesiger Kaufkraftüberhang“, der jede noch so verbesserte Warenproduktion erschlage. Deshalb müsse dieser Überhang durch eine Währungsreform und die befristete Sperrung von Sparkonten kompensiert werden. Erst wenn sich die Wirtschaft dank eines attraktiveren Güterangebots – sowohl im Investitions- wie im Konsumbereich – auf einem höheren Niveau stabilisiert haben, könnten die Konten Zug um Zug freigegeben werden.

Von Bülow glaubt, dass während der „gleitenden Währungsreform“ neben den bisherigen Zahlungsmitteln eine „Plus-Währung“ eingeführt werden muss, mit der ausschließlich „hochwertige Güter“ gekauft werden können. Weiter heißt es: „Wer diese Güter produziert, erhält den Kaufpreis in Plus-Währung. Seine Mitarbeiter entlohnt er anteilig nach dem Prozentsatz hochwertiger Ware mit dieser Währung, die bald frei konvertierbar gemacht werden könnte.“ Jahr für Jahr könnten zehn Prozent mehr Plus-Währung in Umlauf gebracht werden, so dass sich diese nach zehn Jahren als neues Zahlungsmittel ganz durchgesetzt habe.

Unterstützung müsse auch von den westdeutschen Banken kommen: so bei der Realisierung eines vielfältigen und dezentralisierten Kreditgewerbes, der Gründung regionaler Investitionsbanken, „die an Gewerbetreibende und die Landwirtschaft Kleinkredite vergeben“, sowie die Einführung einer Börse. „Das größte Problem“, so vermutet der SPD-Abgeordnete, „wird die Beseitigung der Bürokraten-Hydra sein“. Allein vom Umfang her sei das „eine für westliche Köpfe unvorstellbare Aufgabe“. Deshalb plädiert von Bülow für „massive Anreize für den Statuswechsel vom unkündbaren Beamten/Parteifunktionär zum kündbaren Manager“. Die Gretchenfrage laute: „Wo finden die östlichen Gesellschaften die Menschen, die bereit sind, unternehmerische Aufgaben zu übernehmen und sich gegen enorme Anfangswiderstände durchzubeißen?“

Weitere Empfehlungen aus dem Reformkonzept des Bonners: Aufgabe eines Telekommunikationsnetzes durch westliche Investoren, EG-Angebote „besonderer Assoziationsformen“ für die RGW-Staaten, Anschluss an West-Datenbanken. Unternehmer und Banker im Westen dürften jetzt vor den unübersehbaren Risiken einer Investition in Osteuropa nicht zurückschrecken, Politiker sich nicht in „Leerformeln und unverbindliche Aufrufe“ flüchten.

Mit freundlicher Genehmigung der Stuttgarter Nachrichten

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