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„... ließen uns den Fahrtwind um die Nase wehen“

Mit dem Daimlerzügle in die Oberschule

Quelle: Gleisgeschichten – 100 Jahre Schönbuchbahn. Hrsg. vom Landkreis Böblingen, Böblingen 2011, S. 86-90.

Text: Helga Zaiser

Bild: Helga Zaiser, Holzgerlingen (Foto: privat; aus: Gleisgeschichten – 100 Jahre Schönbuchbahn. Hrsg. vom Landkreis Böblingen, Böblingen 2011, S. 86


Die 1933 in Holzgerlingen geborene Journalistin Helga Zaiser fuhr ab Frühjahr 1943 mit der Schönbuchbahn zur „Adolf-Hitler-Oberschule“ nach Böblingen; diese war kriegsbedingt vom Goldberg ins Böblinger Schloss verlegt worden. Nach dem Ende des Krieges fand der Unterricht wieder auf dem Goldberg statt. Die „Höhere Bezirksschule“ – wie sie nun hieß – war die einzige Oberschule in Sindelfingen und Böblingen; später wurde sie in Goldberg-Gymnasium umbenannt.
Helga Zaiser erinnert sich noch lebhaft an die Zeit des „guten alten Dampfzügles“:


„Das 100-jährige Jubiläum der Schönbuchbahn weckt sicherlich bei vielen ehemaligen Pendlern Erinnerungen an jene Kriegs- und Nachkriegsjahre, in denen der Zug noch die einzige Verbindung in die nähere oder weitere Umgebung darstellte. Linienbusse kannte man noch nicht, und die im Privatbesitz befindlichen Autos waren im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht beschlagnahmt worden –, nur der Dorfarzt und einige andere wichtige Personen besaßen noch einen fahrbaren Untersatz. Benzin war rationiert und die Lastwagen fuhren mit Holzvergaser.

Schönbuchbahn

Bild: Schönbuchbahn auf dem Weg nach Weil im Schönbuch. (Foto: Gemeindearchiv Dettenhausen)

... Stehplätze auf engstem Raum
Für uns Oberschüler – so hießen damals die Gymnasiasten – war das Daimlerzügle frühmorgens um sechs Uhr die einzige Möglichkeit, rechtzeitig zur Schule zu kommen. Das frühe Aufstehen fiel uns immer dann besonders schwer, wenn es nachts Fliegeralarm gegeben hatte. Aber die Schüler aus Hildrizhausen und Altdorf mußten noch früher raus, um erst einmal mit dem Fahrrad zum Bahnhof nach Holzgerlingen zu fahren – und das bei jedem Wetter.

Für uns Schüler gab es in den überfüllten Wagen nur Stehplätze auf engstem Raum, die Sitzplätze waren schon von den Weilemern belegt! Trotzdem herrschte in dem unbeheizten Zug keine schlechte Stimmung – im Gegenteil, man begrüßte sich, man unterhielt sich, und nicht selten fingen ein paar Fahrgäste zu singen an. Bald stimmte der ganze Wagen mit ein in das Lied vom ‚schönen Westerwald‘, gefolgt von des ‚Försters Töchterlein‘ oder man sang vom ‚grünen Wald, da wo die Drossel singt‘ ...

Nach unserer Ankunft in Böblingen verbrachten wir die Zeit bis zum Schulbeginn im kalten und ungemütlichen Wartesaal des Bahnhofs; der Unterricht begann ja erst eine Stunde später. Dabei konnte man noch schnell die vergessenen Hausaufgaben abschreiben, Vokabeln lernen oder aber ‚Stadt-Land-Fluss‘ oder ‚Schiffle versenken‘ spielen.

Nach dem verheerenden Fliegerangriff auf Böblingen am 7. Oktober 1943 war der Unterricht auf dem Schlossberg nicht mehr möglich; wir wurden in das Schulhaus an der Gartenstraße (heute: Pestalozzistraße) in Böblingen umquartiert, die jetzige Pestalozzischule.

... ließen uns den Fahrtwind um die Nase wehen
Nach der Schule freute man sich schon auf die Heimfahrt mit dem Zwölf-Uhr-Zügle. Bei schönem Wetter stellten wir uns am liebsten auf die Plattform zwischen die Zugwagen und ließen uns den Fahrtwind um die Nase wehen, auch wenn uns manchmal dicker Kohlenstaub einhüllte. Im Winter waren Kartenspielen und Stricken bei Jung und Alt eine beliebte Beschäftigung.

Eine echte Hetze gab es immer, wenn wir morgens und nachmittags Schule hatten und nach dem Mittagessen zum Bahnhof rennen mussten. Wenn man am Seltenbach (heute: Untere Bahnhofstraße) das Zügle aus Richtung Weil pfeifen hörte, dann musste mächtig gespurtet werden, um noch das Trittbrett des letzten Wagens zu erreichen!

Alte Ansicht von Holzgerlingen

Bild: Alte Ansicht von Holzgerlingen. Partie beim Taubenbrunnen (Foto: Gemeindearchiv Holzgerlingen) – klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern.

Kopfwehpulver aus der Stadtapotheke
Für die Bevölkerung waren wir fahrenden Schüler nützliche Boten. Da es in Holzgerlingen noch keine Apotheke gab, mussten wir oft Medikamente aus der Böblinger Stadtapotheke mitbringen: Kopfwehpulver, Salben und dergleichen mehr. Auch andere Besorgungen durften wir erledigen. Wir taten das gern –, manchmal gab es ein Zehnerle als Belohnung.

Wer mit dem Elfe-Zügle nach Böblingen fuhr, durfte es auf keinen Fall eilig haben. Dieser Zug hatte immer Verspätung, denn er war für die Güterbeförderung zuständig. Oft musste mehrmals rangiert werden, Güterwagen wurden an- oder abgehängt. Auf der Laderampe stapelte sich Frachtgut aller Art, von Binder-Bändern (Produkte der Bandweberei Binder, Holzgerlingen - Anm d. Red.) bis zu lebenden Ferkeln in flachen Holzkisten, die eingeladen werden mussten.

... von Tieffliegern angegriffen
Das gemütliche Züglefahren ging dann in den beiden letzten Kriegsjahren ziemlich schnell zu Ende. Nicht nur, dass wir Schüler tagsüber bei Fliegeralarm nicht nach Hause fahren konnten, sondern in die verschiedenen Bunker flüchten mussten: Im April 1944 begannen auch die Beschießungen der Züge durch Jagdflugzeuge der Alliierten. Und auch der Böblinger Bahnhof wurde zweimal von Bomben getroffen.

Die Züge hatten oft mehrstündige Verspätungen, und unsere Eltern machten sich große Sorgen. Bis zum Kriegsende verschlimmerte sich die Situation mit jedem Tag. Dazu ein paar Auszüge aus dem Tagebuch des Holzgerlinger Dorfarztes Dr. Heinrich Harpprecht, dessen drei Töchter ebenfalls zu uns Zugfahrerinnen gehörten:

2. Oktober 1944: Die Kinder sitzen wieder vier Stunden im Bunker in Böblingen, hatten nur eine halbe Stunde Schule. Die Bahnfahrt wird auch immer gefährlicher.
Wenn sie abends dann heimfahren, setzen sie sich in den Zug und machen ihre Hausaufgaben. Sie wissen aber nicht, wann der Zug abfährt oder wieder Alarm kommt.

22. November 1944: Das Abendzügle wird am Schönaicher First von Tieffliegern angegriffen. Der Zug hält im Wald, neben Irmgard saust ein Flaksplitter in den Boden! Die Kinder trippeln bei Nacht und Nebel auf den Schienen heim und kommen ganz erledigt an.

25. Februar 1945: Morgenzug von Dettenhausen nach Weil wird übel zugerichtet, zwei Tote.

31. März 1945: Das Zügle wird zwischen Weil und Holzgerlingen schon wieder beschossen, ein Toter.
Da kann man sehen, in wie vielen Gefahren unsere Kinder monatelang waren.“



Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers

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