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Die schnelle Helene

Eine turnerische Jugend in der Weimarer Republik

Quelle: Widerständig - streitbar - revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen. Herausgegeben von der Frauenbeauftragten des Landkreises Böblingen, Böblingen 1999, S. 147-155

Autorin: Dr. Helga Hager

Bild: Helene Grötzinger: Die erste in der Reihe. (Foto: Helene Grötzinger) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

"Im Haushalt hon i meiner Muttr helfe müsse. Und dann hem mer no a paar Äcker g'het, und zwoi Küh; und do hon i mese auf em Feld arbeite ... und dann in de Werkstatt bei meim Vatr. Und dann obends hot ma g'sportelt."
Was die Magstadterin Helene Grötzinger hier beiläufig ans Ende ihrer Tätigkeitsfelder setzt - das "Sporteln" - bildete für sie selbst den Mittelpunkt ihrer Jugendzeit. Auf die Frage, was Turnen in ihrem Leben bedeutet hat, antwortet sie:
"Des war also mein Lebensinhalt ... net, sozusage."
So ähnlich würde auch heute eine Profisportlerin das Verhältnis zu ihrem "Beruf" beschreiben. ...

"Des wär jo so einsam gwä und inhaltslos ..."
Helene Grötzinger, geb. Schmidt, ist 1912 in Magstadt geboren; sie ist das jüngste von fünf Kindern. Die Eltern betreiben eine Drechslerei sowie eine Nebenerwerbslandwirtschaft. Da ihre vier Brüder alle eine Lehre außerhalb Magstadts absolvieren und auch danach auswärts beschäftigt sind, ist für sie nach der Schulentlassung von vornherein die Tätigkeit im elterlichen Anwesen vorgesehen. Sie arbeitet vor allem in der Landwirtschaft, die angesichts der krisenhaften Wirtschaftslage einen wichtigen Rückhalt für den familiären Unterhalt bietet. Gelegentlich hilft sie auch in der Werkstatt mit. ... Die offizielle "Berufsbezeichnung" für eine solche Funktion an der Seite der Eltern war "Haustochter". Wenn Helene Grötzinger auf ihre Jugendjahre zurückblickt, dann zeichnet sie ein ländliches Milieu, das vorwiegend mit dem Überleben beschäftigt war:
" ... Des war jo a schlechte Zeit, bis 33. (...) Do hot ma mese froh sei, dass wenigschtens so g`wäse isch, dass mr hend könne a bissle sportle in der Zeit. ..."

Vor allem für Mädchen bestanden wenig Spielräume, die freie Zeit zu gestalten:
"Des wär jo so einsam gwä und inhaltslos, wenn ma gar nirgends so g'wäse wär, im a Verein oder so. ... Heit isch des anders, aber dort: Wo wär a Mädle alloi nakomme?"
Der Sport, der Verein gab ihrem Leben "Inhalt". Mit diesem eindrücklichen Bild legt sie dar, dass der Sport für sie das einzige Terrain dargestellt hat, auf dem sie eigenen Interessen und Ziele entwickeln und umsetzen konnte. ...
Die ganze Familie war sportlich engagiert. Der Vater, Gottlob Schmidt - bekannt als der "Dreherschmidt" - gehörte zum Gründungskomitee des Turnvereins Magstadt; später war er auch Vorstand bzw. Vorstandsmitglied. Er animierte sie im Alter von zwölf, dreizehn Jahren, zusammen mit einigen Gleichaltrigen in den Verein einzutreten. Sie bildeten die jüngste Riege in der "Damenabteilung", die erst seit dem Jahre 1919 bestand. ... Der Turnverein Magstadt war Mitglied des Schwäbischen Turn- und Spielverbandes. Dieser Verband wurde 1913 von Turnern und Vereinen gegründet, die die nationalistischen und militaristischen Tendenzen in der Deutschen Turnerschaft und im Turnkreis Schwaben nicht billigten und sich aus diesem Grunde abspalteten. Er verstand sich als politisch neutral und grenzte sich insofern auch von den Arbeitersportvereinen ab. ... Es gehörten ihm überwiegend ländliche Vereine an. Der Turnverein Magstadt bildete hier zusammen mit 19 weiteren Ortsvereinen den Würm-Schönbuch-Gau. ...

"...und obends no trainiere"
Einen speziellen Trainer gab es damals nicht. "Mir sind halt g'sprunge, so wie mr hend könne", meint Helene Grötzinger rückblickend. Trainiert wurde gewöhnlich einmal in der Woche unter Leitung des Frauenturnwarts; Neben dem Geräteturnen standen sogenannte Freiübungen mit Keule oder mit Stab auf dem Programm. ...
"Do hot ma de ganze Tag mese fescht schaffe, und obends no trainiere - des war scho viel."
Diese doppelte "Körperertüchtigung" hat wohl aber auch zu einer guten Kondition beigetragen. Bereits 1925 bestreitet sie ihren ersten Wettkämpfe und steht schon hier - wie noch viele Male später - auf dem Siegertreppchen.

Bild: Siegerurkunde für den 100-Meter-Lauf beim 10. Gau-Sportfest in Ehningen. (Foto: Helene Grötzinger)

Mit besonderem Vergnügen blickt sie auf das Gau-Sportfest in Ehningen im September 1929 zurück. Sie errang nicht nur im Dreikampf (75-Meter-Lauf, Kugelstoßen, Weitsprung) sowie in den Einzelsparten Hochsprung und Ballweitwurf erste Plätze. Sie erkämpfte sich zudem noch den 1. Preis im 100-Meter-Lauf, der damals schon eine herausgehobene Stellung im Wettkampfgeschehen innehatte, und der auch eine Lieblingsdisziplin von ihr darstellte. ...
Dieser Sieg in 15,8 Sekunden erfüllt Helen Grötzinger noch heute mit besonderem Stolz, da sie die Konkurrentin, "s' Liesele vo Darmse", trotz schlechterer Ausgangsbedingungen zu "schlagen" vermochte. ... An diesem Laufwettbewerb war auch Helenes Vater sehr interessiert. ... Noch heute belustigt sie das Bild des sie anfeuernden Vaters. So dürfte beide der Sport auch im Alltag in besonderer Weise verbunden haben. Wenngleich sie selbst nicht glaubt, dass ihr innerhalb der Familie eine herausgehobene Stellung zugekommen ist, so hat sie als Person des "öffentlichen Lebens" doch gewiss mehr Aufmerksamkeit erfahren als andere Haustöchter. ...

"Die hend sich au g'freit, wenn i a Preis g'macht hon"
Im Jahr 1929 bestreitet sie auch die Verbands-Meisterschaften des Schwäbischen Turn- und Spielverbands in Zell a. N., bei denen sämtliche Mitglieds-Gaue in Wettstreit traten. In einer solchen Konkurrenz erringt sie den 1. Platz im Kugelstoßen mit 10,28 m und wird im Gemischten Sechskampf "fünfte Siegerin". Der Verfasser der Vereinschronik spricht dann auch in Anerkennung dieser Leistung von der "tüchtigen Helene".
In den folgenden Jahren gehört sie wiederum zu den Besten: 1930, auf dem Gau-Turn- und Sportfest in Aidlingen gewinnt sie den Geräte-Siebenkampf; er umfasst die Disziplinen Reck, Barren, Pferd, Weitsprung, Kugelstoßen, Freiübungen und 75-Meter-Lauf. ... Außerdem steht sie 1930 in Aidlingen bei der 4x100-Meter-Staffel auf dem Siegertreppchen. 1931, in Magstadt, entscheidet sie den Dreikampf für sich.
Wie selbstverständlich das "Sporteln" zu Helene Grötzingers Leben gehört, zeigt ihr Gastspiel bei der Turnerkorporation des Arbeiterbildungsvereins Stuttgart. Als sie 1929 in Stuttgart einen vierteljährigen Kochkurs bei der Marienpflege absolviert, verbringt sie hier ihre Freizeit. ...

Bild: Helene Grötzinger (Dritte von links) beim Verbandsturnfest 1930 in Sindelfingen. (Foto: Helene Grötzinger) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

"Do war mr im ganze Kreis bekannt"
Für Helene Grötzinger, die als "bloße" Haustochter nicht aus dem Heimatdorf herausgekommen wäre, öffnete der Sport in gewissem Maße das Tor zur Welt. ...
"Des war für mi scho a Ereignis, die Zeit, wo ma immer au auswärts zu dene Sportfeschter gange ischt ... . Do war mr im ganze Kreis bekannt". ... Der Status einer erfolgreichen Sportlerin floss in die Selbsteinschätzung, in das Selbstwertgefühl ein: "Des mag sei", so führt sie in bescheidener Weise an, "dass ma sich was g'fühlt hot. Ma kann was, ma ischt was, net."
Wenngleich Landwirtschaft, Handwerk und Haushalt nach wie vor ihren Alltag dominierten, so füllten sie doch nicht mehr das ganze Leben: Sie verfügte über einen eigenen Ort, den allein sie gestaltete und formte.
Doch wohl nicht allein die Erfolge hinterließen Spuren im Selbstbild. Wenn man den Körper als historisches Subjekt betrachtet, dann zeigt sich, dass seine Geschichte - seine Erfahrungen, seine kulturelle Wahrnehmung - immer auch in Beziehung zum weiblichen (und männlichen) Selbstverständnis steht - und umgekehrt. In der Geschichte des Frauenturnens lässt sich dieser Zusammenhang im Groben ebenfalls nachweisen. So wird etwa der erste große Aufschwung nach dem Ersten Weltkrieg, der Durchbruch in den Vereinen, unter anderem mit der veränderten Rolle der Frau in der Gesellschaft erklärt.

Helene Grötzinger forschte in den zahlreichen Disziplinen ihre körperlichen Grenzen aus und versuchte, sie zu erweitern. ... Kraft und Geschicklichkeit, das Zutrauen in die körperlichen Fähigkeiten beinhalten auch eine psychologische und soziale Qualität. Ein sich selbst sicherer Leib ist stabiler gegenüber Beurteilungen von außen, er verschafft sich einen Freiraum gegenüber kulturellen Reglementierungen. In ein Bild gefasst, werden die Unterschiede noch etwas verständlicher: Der Sportlerkörper "kommuniziert" mit dem sozialen Umfeld in aktiver Weise; er gestaltet den sozialen Raum auf seine Art. Und so legt er auch seine Eigenschaften und Grenzen zu einem bestimmten Grad selbst fest.
Die Sportlerin erwirbt, vereinfacht gesagt, mit der körperlich-technischen Kompetenz zugleich auch soziale Autorität. ...

"Do hot's no koi Fernseh gäbe"
Sportkameradinnen und -kameraden bildeten für sich eine separate Welt, in der Helene Grötzinger einen festen Platz innehatte und eigene Konturen auszubilden vermochte. Die Vereinsaktivitäten verliehen ihrem Alltag Struktur. "Do hot's no koi Fernseh gäbe, no isch ma halt viel beisamme g'sässe, beim Turnverein."
Bei den verschiedenen Unternehmungen bildeten sich Rituale heraus, die auf die heimatliche Lebenswelt zurückwirkten. Wenn die aktiven Vereinsmitglieder etwa gemeinschaftlich per Lastwagen oder per Fahrrad zu den Wettkämpfen "auszogen" und wieder erfolgreich zurückkehrten, dann hielten sie für einen Moment die dörfliche Zeit an. Im Sieg verdichtete sich die Gegenwart, und das Alltäglich wandelte sich zum Fest. ...

Helene Grötzinger gestaltete mit der Mädchengruppe auch aktiv die örtliche Festkultur mit:
"Mir hend uns alle g'freit, wo mr hend derfe wieder auf d'Bühne ge Turne. ... Des war scho a Ereignis, in der Zeit, net."

Sie war bei solchen Auftritten die Vorturnerin. Das Erinnerungsbild der Bühne sagt wohl etwas sehr Treffendes über ihr Sportlerdasein aus. Auf der Bühne tritt sie - über den Leib - in einen Dialog mit dem Publikum. Das Thema gibt sie selbst vor. Hier auf der Bühne - wie auch auf dem Sportplatz - spielt sie eine "Rolle", die sie heraushebt, und die bleibende Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlässt. Hier definiert sie sich selbst ihren Ort, hier gestaltet sie selbst "Welt".

Der Text wurde gekürzt.

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Magstadt

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