Nufringen>>Radikalpietistin Anna Riethmüller

Hintergrund und Kontext des Pietismus und Separatismus in Württemberg

Quelle: Fromme Rebellinnen - Frauen und Separatismus im 18. Jahrhundert. In: Widerständig – streitbar – revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen. Herausgegeben von der Frauenbeauftragten des Landkreises Böblingen, Böblingen 1999, S. 62-63.

Autorin: Dr. Helga Hager

Der Pietismus war in Württemberg gegen Ende de 17. Jahrhunderts in der Folge verschiedener politische und gesellschaftlicher Entwicklungen als innerkirchliche Reformbewegung entstanden. Sie verlangte eine Umsetzung der Lehren im praktischen Leben, eine tätige Frömmigkeit und zog eine asketische Lebensausrichtung nach sich. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Kirchenferne der Bevölkerung – bedingt unter anderem durch die als „zu eng" beurteilte Bindung der Kirche an den absolutistischen, prachtentfaltenden Staat - traten schon früh antikirchliche Strömungen auf.

Dieser radikale Flügel, die sogenannten Separatisten, die zahlenmäßig gegenüber dem innerkirchlichen Flügel immer sehr gering blieben, vertraten die Ansicht, „daß zum wirklichen Christsein eine scharfe Trennung von der Kirche und zum Teil auch vom Staat notwendig" sei; so sprachen sie sich auch gegen den Kriegsdienst aus, verweigerten den Eid und propagierten das Du gegenüber der Obrigkeit.1* Die radikalsten unter diesen Separatisten „wandten sich ganz von der Amtskirche ab, um in einer eigenen Gemeinschaft der 'Auserwählten' ihr Heil zu suchen und sahen ihr Gemeindemodell in der apostolischen Gemeinde der ersten Christen. Sie verwarfen die öffentlichen Gottesdienste, verweigerten die Gnadenmittel der Kirche wie Taufe, Beichte und Abendmahl, wie sie überhaupt alle kirchlichen Ordnungen als Menschenwerk ansahen und deshalb die Amtskirche und ihre Vertreter als das antichristliche Babel schmähten."2* Sie versammelten sich im kleinen Kreise (Collegia Pietatis); außerhalb Württembergs wurden diese Versammlungen gelegentlich zu Lebensgemeinschaften weiterentwickelt.

Der Verlauf der separatistischen Bewegung ist eng an gesellschaftliche Krisenzeiten gekoppelt; besondere Ausschläge bewirkten die Franzoseneinfälle und der spanische Erbfolgekrieg in den Jahren um 1700 sowie die napoleonische Neuordnung um 1800; der Höhepunkt war jedoch bereits 1720 überschritten.

Auch die theologischen Ausrichtungen korrespondierte mit den Zeitverhältnissen. So kam in der radikalpietistischen Religiosität dem „Chiliasmus“ eine große Beutung zu: Man glaubte, dass die Wiederkunft Christi nahe oder sogar unmittelbar bevorstehe. Diese endzeitliche Wirklichkeitsdeutung steht mit den Existenzbedrohungen in Zusammenhang, denen die Menschen im 17. und 18. Jahrhundert ausgesetzt waren; für das 17. Jahrhundert hat der Historiker Hans nachgewiesen, dass radikale Pietisten vorwiegend aus solchen gesellschaftlichen Gruppen kamen, die von gesamtwirtschaftlichen Veränderungen besonders betroffen und damit auch in ihrem sozialen Status gefährdet waren.

Zentren der separatistischen Bewegung in Württemberg lagen in der Frühzeit in Stuttgart und Calw, in der späteren Phase in den Dekanaten Dürrmenz und Knittlingen sowie im Remstal, auf der Schwäbischen Alb und in der Gegend um Balingen.


1

Joachim Trautwein: Freiheitsrechte und Gemeinschaftsordnungen um 1800. Pietismus und Separatismus in Württemberg, in: Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Hg): Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, Band 2, Stuttgart 1987, S. 323-342, s. S. 324f.

2

Eberhard Gutekunst: „Triumph Victoria, Jesus Gloria!“ Radikale Pietistinnen im 18. Jahrhundert, in: Herd und Himmel, Frauen im evangelischen Württemberg. Katalog zur Ausstellung des Landeskirchlichen Museums Ludwigsburg, Stuttgart 1998, S. 155.



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