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Die Fabrik im Dorf

Renninger Strickerinnen

Quelle: Widerständig - streitbar - revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen. Herausgegeben von der Frauenbeauftragten des Landkreises Böblingen, Böblingen 1999, S. 158-169

Autorin: Dr. Helga Hager

Bild: Belegschaft der Renninger Strickerei Kern im Jahre 1928. (Foto: Anna Böhmler) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

"Früher isch älles glei in d'Strickerei" - mit diesem Satz bringt Maria Pflüger die beruflichen Perspektiven der Renninger Mädchen in den 1920er Jahren auf den Punkt. Auch sie hat diesen Weg eingeschlagen. Mit gerade 13 Jahren tritt sie 1928 in die örtliche Strickerei Kern ein. Anna Böhmler fängt bereits im Herbst 1927 an. Sie ist damals 15 Jahre alt. Beide arbeiten hier über vier Jahrzehnte lang bis zur Schließung des Betriebs im Jahre 1970.

Der Weg in die Fabrik: Motivation und Hintergründe
Die wirtschaftliche Situation im Elternhaus von Anna Böhmler (geb. Widmajer) war damals sehr angespannt. Der Vater war bereits 1918 mit 51 Jahren verstorben, so dass die Mutter die "mittelgroße" Landwirtschaft allein mit Hilfe der älteren elf Kinder betreiben musste. Während die Familie zuvor noch mit den Fuhrdiensten des Vaters über ein Nebeneinkommen verfügte, war die Mutter in der krisenhaften Wirtschaftslage der 20er Jahre allein auf die landwirtschaftlichen Erträge angewiesen. Der älteste Bruder, der als einziger einen eigenen Lohn hätte einbringen können, war im 1. Weltkrieg im Alter von 21 Jahren gefallen.

Anna Böhmler war die zweitjüngste. Sie und ihre jüngere Schwester haben die Not und Verzweiflung der Mutter sehr bewusst miterlebt. ... Unter diesen Umständen war es für sie wohl selbstverständlich, dass sie möglichst bald einen eigenen Lohn in den Haushalt einbrachte. Der Schritt in die ortsansässige Strickerei Kern fiel ihr dabei keineswegs schwer. In der Landwirtschaft, betont sie, habe sie "net arg gern g'schafft", da sei sie lieber "in d'Strickerei". ...

Auch Maria Pflüger (geb. Stähle) ging "von selber" in die Strickerei; doch ihre Motivation scheint nicht vorwiegend wirtschaftlicher Natur gewesen zu sein. ... Vermutlich übte das Strickgewerbe deshalb so eine große Anziehungskraft auf sie aus, da mit einer solchen Anstellung ein gewisser Statuszuwachs oder zumindest ein größeres Maß an Selbstständigkeit verbunden war. Die ein Jahr ältere Schwester dürfte ihr hierfür wohl ein Vorbild gewesen sein. Der Vater war Schneidermeister in Renningen, stand jedoch in einem festen Vertragsverhältnis bei der Eisenbahn. Die Mutter bewirtschaftete ein "paar Äcker" und hielt auch Kühe. Maria Pflüger war die zweitjüngste von sechs Kindern. ...

Die Fabrik im Dorf
Der Firmensitz der "Mechanischen Strumpfwaren-Fabriken Robert Kern, Inh. Hugo Heuscher" war in Stuttgart; die Hauptfabrikation fand in Weissach statt. Im Renninger Werk, in der Rutesheimer Straße, arbeiteten Ende der 20er Jahre rund 70 Frauen; außerdem beschäftigte die Firma noch "viele" Heimarbeiterinnen, die zum Teil auch aus den Nachbarorten kamen. In Renningen existierte zu dieser Zeit noch eine weitere Strickerei; die Firma Starz & Hartmann in der Langen Straße.

Auch Stricken will gelernt sein
Anna Böhmler und Maria Pflüger haben das Stricken an mechanischen Maschinen erlernt; die einzelnen Arbeitsgänge wurden hier per Hand ausgelöst und durchgeführt. Als erstes Übungsfeld dienten großmaschige Socken, bei denen sich die verschiedenen Arbeitsschritte gut nachvollziehen und Fehler leicht erkennen ließen. ...

Nach der Einlernphase waren sie zunächst für die technisch anspruchsvollen "Vorfüße" (gemeint war damit der Fußbereich im ganzen - im Gegensatz zu den "Längen") der langen Frauenstrümpfe zuständig. Die Strümpfe wurden aus einer qualitativ hochwertigen ("Regia"-)Wolle gefertigt. Der Arbeitsprozess begann damit, dass sie zuerst die Maschen der separat hergestellten "Längen" einzeln aufnahmen - und dann den Fuß anstrickten; deshalb sind sie auch "A'fußerne" genannt worden. ... . Das Zusammennähen der Strümpfe oblag anderen Kolleginnen. Der letzte Schritt, das Appretieren, erledigte der Meister selbst.

Ab dem Moment der Produktionsvorgabe durch den Meister arbeitete jede Strickerin selbständig. Die fertige Ware wurde von den sogenannten Repassiererinnen auf Größe und Fehler kontrolliert. Das Tagespensum betrug etwa ein Dutzend Vorfüße.

Strenger Meister
Als Charakteristikum der frühen Jahre führen beide den Meister Robert Maier an. Er sei "arg streng" gewesen. Offensichtlich legte er großen Wert auf Disziplin und Ordnung und tolerierte keine Gespräche während der Arbeit. Nur außerhalb der Produktionszeit sei er freizügiger gewesen; so hätten sie beim Reinigen der Maschinen singen dürfen. Die jüngsten der Belegschaft hatten jeweils am Samstag die Aufgabe, den Fußboden des Werksaals nebst Büro und allen dazugehörigen Räumlichkeiten zu putzen. Der Akkordlohn betrug in den Anfangsjahren etwa 35 Mark für 14 Tage, der Stundenlohn 27 bzw. 35 Pfennig.1* Eine Lohnabrechnung aus dem Jahre 1958 beläuft sich auf netto DM 308,85 im Monat2*. In der Regel wurde allein nach Stückzahl entlohnt, wobei jedoch die Maschinenausfallzeiten ersetzt wurden. Gearbeitet wurde anfangs von 7 bis 17 Uhr. ...

Das Stricken konnte jedoch nicht nur körperlich sondern auch nervlich anstrengend sein. ... Dass die Anspannung zweifelsfrei größer war als bei bäuerlichen Tätigkeiten, legen zum einen die Akkordbedingungen und die Störanfälligkeit der Maschinen nahe. ... Zum anderen brachte auch das Arbeiten nach Maß manche Unwägbarkeiten mit sich. ... Die von Hand gefertigten Strümpfe aus reiner "Regia"-Wolle waren ein Qualitätsprodukt und wurden nur vom Fachhandel vertrieben; sie kosteten bereits in der Zwischenkriegszeit über zehn Mark.3*

Bild: Strickerinnen in der Renninger Firma Starz & Hartmann vor dem 2. Weltkrieg. (Foto: Heimatverein Rankbachtal e.V.) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern


Motoren und Lochkarten
Noch vor dem 2. Weltkrieg hielten motorbetriebene, lochkartengesteuerte Maschinen Einzug in die Fabrik. Mit ihnen erweiterte sich die Produkt-Palette um Schlüpfer (Unterhosen), Leibbinden, Schlauchmützen (für Soldaten), Kinderkleidung - und am Ende auch um Strumpfhosen. Wichtigstes Material war dabei immer Wolle. Baumwolle wurde von der Firmenleitung im Einkauf als zu teuer erachtet. Bei Umstellungen bzw. Neuerungen fuhr die Belegschaft zusammen mit dem Meister zur Schulung ins Werk Weissach. ... Mit der Automatisierung wurde das Stricken zwar körperlich leichter, doch die Anforderungen nahmen im Ganzen zu. ...

"Sockeweiber"
Maria Pflüger und Anna Böhmler haben sich insofern nicht als "Strickerinnen" verstanden, als die Strickerei nicht mit einem feststehenden Berufsbild oder einer Lehre verbunden war. ... Gleichwohl bezogen sie aus dem Stricken ihr Selbstverständnis. So wurden ihre Erzeugnisse ja auch in den guten Stuttgarter Fachgeschäften angeboten, was sie mit einem gewissen Erzeugerstolz erfüllte. ... Nicht alle ehemaligen Kolleginnen jedoch konnten sich mit dem textilen Metier anfreunden; "Viele" hätten wieder aufgehört. ... Diese seien dann "in Stellung" gegangen - oder andernfalls "Bauremädle" geblieben. ... Anna Böhmler und Maria Pflüger gingen auch nach ihrer Heirat im Jahre 1936 weiterhin in die Strickerei. Der Ehemann Anna Böhmlers arbeitete in einer Leonberger Schuhfabrik, jener von Maria Pflüger war von Beruf Maler. Auch während des Krieges lief die Produktion in der Strickerei weiter.

Mit dem Betrieb verwachsen
Nach der Heimkehr des Ehemanns aus dem Krieg (1945), so Anna Böhmler, habe dieser den Wunsch geäußert, dass sie sich nur noch um die eigene Hauswirtschaft mit Garten und Kleintieren kümmere; ... Nach einem Jahr sei der ehemalige Meister an sie herangetreten und da habe sie nicht nein sagen können. ...

"Jo, ma hot scho 's Hoimweh g'het", bekundet auch Maria Pflüger. Das "Verwachsensein" mit dem textilen Gewerbe war auch für sie der Hauptgrund, dass sie zwei, drei Jahre nach der Geburt ihrer Tochter (1944) ihre Arbeit wieder aufnahm; das Kind wurde tagsüber von ihrem Vater betreut. Als sie und ihr Ehemann sich später trennten, war sie auf den Verdienst auch finanziell angewiesen.

Wie weitreichend die berufliche Tätigkeit das Selbstverständnis, die Mentalität prägte, kommt noch einmal am Ende des Arbeitslebens zum Ausdruck. Die Strickerei wurde im Jahre 1970 aufgrund mangelnder Rentabilität geschlossen. Die kurzfristige Kündigung, so Anna Böhmler, sei ein "Schock" gewesen. Sie war zu diesem Zeitpunkt 59 Jahre alt.4*

Bild: Wollschlüpfer aus der Strickerei Kern. Bund, Spickel und Korpus wurden jeweils an separaten Maschinen hergestellt. Für jeden Abschnitt des Hosenbundes existierten separate Garnspulen - so etwa für den weißen "Ringel" (Zierstreifen). (Foto: Anna Böhmler)

Eigene Welt
Die Beschäftigung in Haus und Garten vermochte Zeit und Raum nicht zu füllen. Gerade dieser Kontrast beleuchtet die Strickerei noch einmal von einer anderen Seite: Die Fabrik stellt eine eigene Welt dar; und diese Welt haben Anna Böhmler, Maria Pflüger und ihre Kolleginnen in ihrer Arbeit und ihrem Miteinander weitgehend selbst geschaffen. In den Erzeugnissen fanden ihre Leistung, ihre Fähigkeiten eine bleibende Form. Im Gegenüber der Erzeugnisse entstand aber auch ein Bild ihrer Selbst. ...

1

das entspricht ca. 17,90 € für 14 Tage und einem Stundenlohn von 14 bzw. 17 Cent.

2

ca. 158 €

3

ca. 6 €

4

Anna Böhmler war anschließend noch einmal 20 Jahre einmal pro Woche in einem Stuttgarter Geschäftshaushalt tätig, wo sie bei den Kindern die Großmutterstelle eingenommen hat. Maria Pflüger, die bis zur Erreichen des Rentenalters noch auf eine Festanstellung angewiesen war, fand gleich im Anschluss eine Beschäftigung in einem Renninger Messgeräte-Betrieb.

Der Text wurde gekürzt.

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Renningen
Heimatverein Rankbachtal e.V.

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