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Sindelfingen>>Chorherrenhaus

Mittelalter in der Sindelfinger Stiftstraße

Bestandsaufnahme vor der Sanierung des über 500 Jahre alten Chorherrenhauses

Quelle: Sindelfinger Zeitung, 22. August 1985

Bild: So soll das Gebäude Stiftstraße einmal von der Nordseite her aussehen. Bild: SZ - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Eines der üblichen Sindelfinger Bauernhäuser war das Gebäude in der Stiftstraße 2 wohl nie gewesen. Der Volksmund bezeichnet es als Chorherrenhaus. Doch der Ietzte Beweis wurde dafür nicht erbracht. Rund 1.766 Millionen Mark will die Stadt Sindelfingen sich die Erhaltung und Sanierung des Gebäudes kosten lassen. Der Stuttgarter Architekt Ralf Lemberg macht im August 1985 Bestandsaufnahme.

Er untersucht die Konstruktion des alemannischen Fachwerkhauses, nimmt den Zustand des Holzes unter die Lupe. Die Geschichte läuft rückwärts und die Frage steht: Wie mag dieses Haus einmal im Original ausgesehen haben? Im Moment starren die Fachwerkbalken hohläugig auf die Ziegel- und die Stiftstraße. Ihr Innenleben wurde zum Teil ausgeräumt. An einigen Stellen ist das ursprüngliche Lehm- und Flechtwerk der Außenwand zu sehen, die seit rund 500 Jahren Schutz vor Kälte und Wärme gegeben hat. Die Jahresringanalysen datieren das Gebäude exakt auf das Jahr 1454 zurück. Das Landesdenkmalamt setzte es auf die Vorschlagsliste für Kulturdenkmale. Die Jahrhunderte haben das Gebäude verändert. So zum Beispiel durch den Anbau an der Stiftstraße, der erst später dazukam. Original dagegen ist der spätmittelalterliche Türrahmen mit angeblatteten Kopfbändern und Türsturz in der spätgotischen Form des Eselsrückens. Es ist das einzige Haus in Sindelfingen, das diese Rarität vorweisen. kann. Seltenheitswert hat auch die Bohlenstube an der Nord-Ost-Seite.

Besonderheiten
Das Gebäude gehörte zum Stiftsbezirk, der bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht und im Norden der Stadt lag. Wie die meisten mittelalterlichen Gebäude in Sindelfingen, ist das Haus in der Stiftstraße zweistöckig. Ungeklärt ist, ob es tatsächlich einem Chorherren gehört hatte, einem jener weltlichen Geistlichen, die bis zur Verlegung des Stifts nach Tübingen im Jahre 1476, ihren Stammsitz in Sindelfingen hatten. Vermutungen gehen in diese Richtung. So wurde für das Gebäude kein Rauchgeld erhoben, eine Abgabe an den Herzog von Württemberg, die alle bewohnten Häuser "gewöhnlicher" Bürger betraf.

Es muss zur gehobenen Klasse seiner Zeit gehört haben. Das Erdgeschoss wurde nicht wie sonst üblich, als Stallung genutzt. Dafür sprechen die hohen Räume. Stattdessen muss dort die Küche gewesen sein, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Die Rauchspuren an den Wänden lassen den Schluss zu. Bei einer Gebäudezählung im Jahr 1719 wurde das Haus auf 900 Gulden geschätzt. Ein hoher Preis, verglichen mit anderen Häusern, von denen der größte Teil einen Wert zwischen 50 und 500 Gulden hatte.

In das Puzzle passt, dass gerade im 14. und 15. Jahrhundert das Stift zunehmend seinen Besitzstand vergrößerte, wovon auch Probst und Chorherren profitierten. Sie gehörten zur Oberschicht im damaligen Sindelfingen, hatten einen Teil der Probsteipfründe und durften Wälder, Allmenden1* und Weiden mitbenutzen. In dieser Zeit der Hochkonjunktur entstand das Gebäude Stiftstraße 2.

Verlegung des Stifts
Zwölf Jahre später genehmigte Papst Sixtus der IV. die Verlegung des Stifts nach Tübingen. Der Herzog von Württemberg wollte eine Universität gründen. Er fasste die Stadt Tübingen dafür ins Auge, dort aber gab es kein Stift. Was Tübingen brauchte, hatte Sindelfingen zu bieten - Besitz und Einkünfte. Das Vermögen des alten Stifts wurde geteilt, ein Teil ging an das neugegründete Augustiner-Stift in Sindelfingen. Dort lebte man fortan nach mönchischen Regeln. Den anderen bekam das Sankt-Georgs-Stift in Tübingen. Die Universität wurde am 1. Oktober 1477 eröffnet.

Nachfolge
Die Verlegung des reichen und angesehenen Stifts scheint sich wirtschaftlich eher negativ auf die Stadt ausgewirkt zu haben. Welches Schicksal das Haus in der Stiftstraße 2 erfahren haben mag, darüber schweigen sich die Dokumente aus. Erst die Gebäudezählung aus dem Jahr 1719 lässt den Schluss zu, dass dort noch immer die besseren Herrschaften zu Hause waren. Nicht nur, dass das Haus auf 900 Gulden geschätzt wurde, die Eigentümerin zur damaligen Zeit war die Witwe des Bürgermeisters Volzen. Der Bürgermeister - vergleichbar mit einem Stadtkämmerer - hatte die Rechnungen zu führen, Handwerker zu beaufsichtigen oder bei Waldverkäufen nach dem Rechten zu sehen: Eine nebenberufliche Tätigkeit zwar, aber eine angesehene Tätigkeit.

Auch was Volzens Witwe an Eigentum vorzuweisen hatte, konnte sich sehen lassen: zwei Stuben, eine neuerbaute Scheuer, darin eine Stube und ein Hofplatz. Ein gutes Jahrhundert später bewohnte die Witwe Alexander Heiningers das "Haus Nummer 118". Dazugekommen waren inzwischen eine weitere Scheune, ein Waschhaus, ein Hühner- und ein Schweinestall. Das Haus hatte sie mit dem jungen Alexander Heininger und einem gewissen Klein zu je einem Drittel zu teilen.

Im Revolutionsjahr hatte sich die "Drittelung" auch auf das Waschhaus, den Hühner- und den Schweinestall ausgedehnt. Die Witwe Alexander Heiningers lebte noch immer, der junge Alexander Heininger taucht als Bauer in den Annalen auf und ein Philipp Jakob Kleine muss seinen Besitzteil an den Bäcker Jung Heinrich Reuff verkaufen. Er hatte in den politischen Wirren seiner Zeit Pleite gemacht.

Bild: Das renovierte Chorherrenhaus im Jahre 2003

Pläne
Es waren Privatleute, die sich in den folgenden Jahrzehnten in der Stiftsstraße 2 die Klinke in die Hand gaben. Schließlich kaufte die Stadt Sindelfingen das Gebäude. Der Gemeinderat beschloss, das Haus von Grund auf zu sanieren. Im März dieses Jahres begann Rolf Lemberg mit den Untersuchungen, in deren Verlauf er Schwellen, Bundstützen und "Rähm"2* als Stützkonstruktionen entdeckte, die zum größten Teil erhalten sind. An der Nordseite ist ein Erker so weit noch vorhanden, dass sogar die Rekonstruktion der ursprünglichen Fallläden möglich ist. Beginn der eigentlichen Baumaßnahmen ist für das Frühjahr 1986 geplant.



1

Wiesen, Wald, Ödland zur allgemeinen Nutzung der Dorf- oder Stadtbewohner

2

"Rähm" ist der obere Abschluss eines Fachwerks. Siehe Pfeil >>>

Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung

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