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NS-Opfer in Sindelfingen

Die Chronik angekündigter Morde

Quelle: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag, Sindelfingen 1999, S. 98

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war Sindelfingen ein eher beschauliches Städtchen. Aber auch die kleine Gemeinde blieb vom NS-Terror nicht verschont: 39 Sindelfinger wurden zwischen 1939 und 1945 ermordet. Fast idealtypisch kann man am Beispiel Sindelfingen ablesen, welchen Personengruppen die Nazis nach dem Leben trachteten.

Bild: Karte mit den Orten und Konzentrationslagern, in denen Sindelfinger Bürger eingesperrt oder ermordet wurden. (Aus: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren, Sindelfingen 1999, S. 98) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

In der Oberen Vorstadt 1, wo heute das Domo steht, hatte die achtköpfige jüdische Familie Ullmann seit 1923 ihr Haus. Die Brüder Siegfried und Sigmund waren Viehhändler, der Bruder Emil betrieb eine Herrenschneiderei; alle drei waren sie privat und geschäftlich in Sindelfingen integriert.

Das änderte sich nach Hitlers Machtübernahme. 1938 verbot Bürgermeister Karl Pfitzer heute Ehrenbürger der Stadt, allen Juden den Zutritt zu Sindelfinger Viehmärkten, Emil Ullmann musste seine Schneiderei aufgeben. Im Herbst 1941 wurde die Familie in Haigerloch, später in Stuttgart interniert, von wo aus sie Ende 1941 und im April 1942 „auf Transport" nach Osten geschickt wurden. Von den acht Familienmitgliedern überlebten nur zwei - Helmut und Edith Ullmann, die bereits in den Dreißiger Jahren in die USA geschickt worden waren.

Bild: Im März 1943 wurde die Sinti-Großfamilie Reinhardt aus ihrer Unterkunft im Sommerhofental in die Konzentrationslager Auschwitz und Dachau verschleppt. Ihr Vermögen wurde eingezogen. Nur von zwei Familienmitgliedern ist gesichert, dass sie die NS-Zeit überlebt haben. Aktennotiz aus dem Sindelfinger Stadtarchiv - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Sie waren Sinti ...
Im Gewann Eschenried, damals weit außerhalb der Stadt gelegen, lebte seit etwa 1930 die 25köpfige Sinti-Familie Reinhardt. Einige Familienmitglieder hielten sich durch Hausierhandel oder durch An- und Verkauf von Alteisen über Wasser, andere waren in festen Beschäftigungsverhältnissen (zum Beispiel bei Daimler-Benz). Ihr Verhängnis begann mit der Tätigkeit des Tübinger Nervenarztes Robert Ritter, der ab 1936 den Sinti und Roma „rassische Minderwertigkeit" bescheinigte. Bereits 1937/38 wurden Franz Anton und Johannes Reinhardt als „arbeitsscheue Elemente" ins KZ Dachau verschleppt. In einem verzweifelten Schreiben wandte sich Katharina Reinhardt im Juli 1939 an Bürgermeister Pfitzer: „Ich bitte ihne sind Sie so gut und sind Sie mir behilflich, dass mein Mann und Sohn wiederkommen kann, indem dass ich keinen Ernährer habe. Wenn mein Mann da ist, so übergeb ich mein Grundstück der Gemeinde über und verzichte auf Sindelfingen."

Grundstücksübergabe und Wegzug gegen Freilassung der Angehörigen - wir können uns nicht vorstellen, wie verzweifelt diese Menschen waren. Und sie hatten keine Chance: Am Morgen des 16. März 1943 wurden sämtliche Mitglieder der Familie Reinhardt „abgeholt" und mindestens 17 von ihnen, vermutlich in Auschwitz ermordet. Das jüngste Kind war drei Jahre alt.

Sie waren Kommunisten ...
Karl Keinath war 1924 nach Sindelfingen gekommen und hatte bei Daimler Arbeit als Lackierer gefunden - „Arier" zwar, aber überzeugter Kommunist. Im Juni 1935 wurde er mit seiner Frau Emma verhaftet, ihre beiden Kinder kamen auf Betreiben von Bürgermeister Pfitzer in ein Erziehungsheim nach Tuttlingen. Emma Keinath wurde kurz darauf freigelassen, Karl Keinath wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach dessen Beendigung wurde er ins KZ Flossenbürg verschleppt, wo er am 18. April 1942 umkam. Ähnlich erging es seinem Genossen Wilhelm Brendle. Er war im August 1935 verhaftet worden. Im Januar 1940 kam er im KZ Mauthausen um.

Bild: Gedenktafel für die NS-Opfer am Sindelfinger Rathaus - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Sie waren Zeugen Jehovas ...
Sigurd Speidel wohnte in der Oberen Vorstadt 68. Im Herbst 1942 erhielt der 18-jährige den Stellungsbefehl nach Horb. Er wusste, dass dies seinem Todesurteil gleichkam. Denn wie alle anderen Mitglieder der Glaubensgemeinschaft Jehovas Zeugen verweigerte er Militärdienst und jeglichen Treueid auf einen Menschen. Sigurd Speidel fuhr nach Horb, wo er den Eid und das Tragen der Uniform verweigerte. 14 Tage später verurteilte ihn das Reichskriegsgericht zum Tode, am 27. Januar 1943 wurde er im Zuchthaus Moabit enthauptet. Wenige Tage zuvor war er 19 Jahre alt geworden.

Wilhelm Hirsch, ebenfalls in der Oberen Vorstadt zu Hause, war Jahrgang 1899. Er hatte bereits am Ersten Weltkrieg teilnehmen müssen und war unter dem Eindruck der Kriegsgreuel Zeuge Jehovas geworden. Im Februar 1944 erhielt er den Heranziehungsbefehl für eine vierwöchige Militärübung. Auch er verweigerte Eid und Uniform. Das Todesurteil durch das Reichskriegsgericht umfasst gerade eine Seite. Am 19. Juni 1944 wurde er in Halle erschossen.

Sie waren Behinderte ...
Schon im Juli 1933 sah das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" die Sterilisation vor; auch an Bürgern Sindelfingens wurde eine „Unfruchtbarmachung" durchgeführt. Parallel dazu wurde in zahllosen Zeitungsberichten, Vorträgen, Rechenbeispielen der geistige Boden für die Beseitigung „lebensunwerten Lebens" bereitet. Mit Kriegsbeginn 1939 erfolgte der Übergang zur „Euthanasie", auch in Sindelfingen. Mindestens zwölf behinderte oder kranke Bürger wurden, meist in Grafeneck bei Münsingen, ermordet.

Seit Juli 1996 erinnert eine Gedenktafel am Rathaus an das Schicksal der Sindelfinger NS-Opfer.

Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung

Literaturhinweis:
Die Machtergreifung in Sindelfingen, Röhm Verlag, Sindelfingen 1983. Herausgegeben und zusammengestellt von einem Autorenkollektiv der Klasse 12 am Sindelfinger Goldberg-Gymnasium.

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