Leseprobe aus der „Springer’schen Chronik“
Das Waldenbucher Schloss als Militärhospital 1813-14
„Im Frühjahr 1813 wurde das seit Verlegung des Forstamts leerstehende Schloß zum Militärhospital eingerichtet und bot zunächst manchem der mit dem Todeskeim in der Brust zurückgekehrten „Rußländer“ (so wurden die Teilnehmer am russischen Feldzug vom Volke genannt) wenigstens eine stille Stätte zum Sterben. Der verlustreiche Feldzug in Sachsen (18. Oktober Schlacht bei Leipzig) sorgte bald für neue Gäste. Vom April bis Dezember starben im Waldenbucher Spital 84 württembergische Krieger, davon nur 10 an ihren Wunden, die übrigen alle an Nervenfieber, Auszehrung, Ruhr und Entkräftung. Die Genesenden scheinen bei neu erwachender Lebenslust den Mädchen des Städtchens gefährlich geworden zu sein, die mit weiblichem Scharfblick den in der männermordenden Kriegszeit gesteigerten Wert der Übrigbleibenden erkannten; der vorsichtige Kirchenkonvent aber verbot „aus Veranlassung des hiesigen Militärhospitals“ die Lichtkärze für diesen Winter gänzlich.
Als nach der Leipziger Schlacht die französischen Heerestrümmer nach Frankreich zurückfluteten und die verbündeten Preußen, Österreicher und Russen nachströmten, wurde Monate hindurch das an der Heerstraße gelegene Waldenbuch von Durchmärschen und Einquartierungen nicht frei. Anfangs Dezember ritten die ersten Kosaken ins Städtchen; der Tübinger Lateinschüler Riecke, der nachmalige Hofkammerdirektor, Vater des Finanzministers, sah sie auf seinen Wanderungen nach Stuttgart die Anhöhen um Waldenbuch herunterreiten. (....)
Sehr wunderbar mutete namentlich Anfangs die fremdartige Erscheinung der Russen an. Ihre prächtigen Garde- und zerlumpten Linientruppen, der bärtige Kosak samt schlitzäugigen Baschkieren mit Pfeil und Bogen. Dann der treuherzige österreichische Landwehrmann und die wilden Ungarnhusaren, die begeisterten siegesfreudigen Preußen, kurz die ganze Völkerwanderung die von Ost nach West „ins Frankreich hinein“ sich bewegte. Mit der Jahreswende 1813-14 hatten diese Heere als Rächer lang erduldeter Unbill den Krieg nach Frankreich getragen. Die bisher von Napoleon mißbrauchten Württemberger standen, mit österreichischen und russischen Truppen zum 4. Armeekorps vereint, unter ihrem geliebten Kronprinzen Wilhelm, der an den Tagen von Epinal (18.1.1814), Brienne, Sens, Monterau, Arcis sur Aube und Paris (30.3.1814), als ein edler Ritter furchtlos und treu sich bewährte. Mancher Held dieser Tage durfte seine Wunden in dem für 400 Mann eingerichteten Waldenbucher Spital ausheilen, mancher schloß dort die Augen: im Laufe des Jahrs 1814 außer 40 Württembergern auch 27 Österreicher und 14 Russen, deren fremdartige Namen wie Choßky, Hafy, Mudruck, Iwanow, Posvikoff, Zabrodin, Seraschew, Alexei, Peßmertin usw. im Waldenbucher Totenbuch die außerordentliche Zeit verewigen. Die Beerdigung machte nicht viel Umstände, man war in den langen Kriegsjahren stumpf geworden. Die Leichen wurden meist ohne Sarg und ohne Feierlichkeit in den kühlen Wald eingebettet und ein zur Beerdigung hergereister Vater erbat sich vergeblich für seinen aus Heilbronn gebürtigen Sohn eine Grabstätte auf dem Kirchhof des Städtchens. In späteren Jahre wurde übrigens über den Waldgräbern ein jetzt in Abgang gekommenes hölzernes Kreuz errichtet und die betreffende nördlich der Weilemer Landstraße gelegene Stelle heißt heute noch „der Russenkirchhof“. (...)
Eines Sonntags, während die Gemeinde zum Gottesdienst in der Kirche versammelt war, tritt eilends ein krank und elend aussehender russischer Soldat ein. Er sieht nicht rechts noch links, sondern ersteigt rasch den Altar, hinter welchem in schöner lebensgroßer Holzschnitzerei der gekreuzigte Heiland sich erhebt, umfaßt kniend den Kreuzesstamm, bedeckt die angenagelten Füße mit Küssen und bleibt so schluchzend und mit vielen Tränen längere Zeit im Gebet. Ergriffen hielt der geistliche auf der Kanzel mit der Predigt inne, und wohl mag für manchen das aus tiefem Herzen kommende Gebet des Kriegers, dessen Schmerz niemand kannte, wirksamer gewesen sein, als die beste Predigt. ...“
Aus: Otto Springer, Geschichte der altwürttembergischen Landstadt Waldenbuch, Stuttgart 1912, S. 145-147
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