zeitreise bb
Flacht>>Pfarrpaar Mörike
Flachter Pfarrpaar Mörike versteckte Juden im Dritten Reich

Gertrud und Otto Mörike - Leben auf der Grenze

Quelle: „Mutige Christen im NS-Staat“ - Broschüre des Jüdischen Museums Göppingen, Herausgeber: Karl-Heinz Rueß und Marcus Zecha im Auftrag der Stadt Göppingen

Autor: Dr. Joachim Scherrieble

Bild: Gertrud und Otto Mörike im Jahre 1943. Zu dieser Zeit begann ihre Zusammenarbeit mit dem „Bruderring“, einer verdeckt arbeitenden Organisation, die v.a. aus württ. Pfarrfamilien bestand und untergetauchte Juden beherbergte. (Foto: Dora Mezger-Mörike)

Otto Mörike (1897-1978) und seine Ehefrau Gertrud (1904-1982) stellten sich mehrfach entschieden gegen die menschenfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus und beherbergten während des Krieges unter Einsatz ihres eigenen Lebens Juden bei sich. Ihr Mut und ihre Tapferkeit wurden meist einseitig als Taten von Otto Mörike beschrieben, obwohl die Eheleute sowohl im privaten Umgang, im Wirken in der Gemeinde sowie im politischen Handeln bewusst als Paar auftraten - nach außen dokumentiert im gemeinsamen Namensstempel "Gertrud und Otto Mörike".

Aus der Darstellung dieses gemeinsamen Lebens auf der Grenze ragen vor allem zwei Lebensphasen heraus: Die Vorgänge um und nach der "Volksabstimmung" vom 10. April 1938, bei der beide ihre Ablehnung der Politik Hitlers begründeten und eine schlimme Zeit in Kirchheim erleben mussten, sowie die Zeit in Flacht, während derer beide als Organisatoren des württembergischen "Bruderringes" unter Einsatz ihres Lebens untergetauchte Juden im Pfarrhaus beherbergten.

Anschluss an die Bekennende Kirche
Am 11. Februar 1926 heirateten der 28-jährige Vikar und die sieben Jahre jüngere Pfarrerstochter in Oberboihingen. Für beide war es die große Liebe. Mit ihrer Hochzeit begann die gemeinsame Arbeit als Pfarrpaar zwischen Haushalt, Gemeindearbeit und Politik in Oppelsbohm. ...

Das NS-Regime begrüßten die Mörikes zu Anfang noch wegen seiner scheinbaren sozialen Leistungen und seiner Idee der "Volksgemeinschaft", doch bald erkannten sie, "dass Hitler sich an Gottes Stelle setzen wollte", und Otto Mörike schloss sich der Bekennenden Kirche, einem Zusammenschluss oppositioneller Pfarrer, an.

Für die Teilnahme an einer Sympathiekundgebung für den unter Hausarrest gestellten Landesbischof Wurm bekam er einen staatlichen Verweis. ...

Schlimme Zeiten in Kirchheim
Am 4. September 1935 kam Mörike als Stadtpfarrer nach Kirchheim unter Teck. Eine erste Gelegenheit für die Parteibehörden, gegen den ob seiner Nazi-Gegnerschaft bekannt gewordenen Mörike vorzugehen, bot sich anlässlich der Reichstagswahl vom 29. März 1936. Am Wahltag bat Mörike in seinem Schlussgebet, "dass Gott dem Führer die Zucht seines Geistes nicht entziehen möge". Das verkürzt weitergegebene Gebet führte schließlich dazu, dass Kultminister Mergenthaler Mörike am 8. Oktober 1936 "wegen dieser unerhörten Entgleisung das Recht zur Erteilung des Religionsunterrichts an allen Schulen des Landes" entzog. Trotz zusätzlich eingeleiteten Strafverfahrens, richterlichen Verweises und öffentlicher Hetztiraden in zwei NS-Kampfblättern beugte sich Mörike nicht. ...

Am 10. April 1938 sollten durch eine Volksabstimmung der vier Wochen vorher vollzogene "Anschluss" Österreichs an das nunmehr "Großdeutsche Reich" legitimiert sowie Hitlers fünfjährige Regierungspolitik bestätigt werden. Die Kirche unterstützte die Wahlen, Otto und Gertrud Mörike hingegen legten an Stelle des amtlichen Stimmzettels jeweils eine Erklärung in den Wahlumschlag. Otto nannte den "Kampf gegen die Kirche und den christlichen Glauben sowie die Auflösung von Recht und Sittlichkeit" als Gründe für seine Ablehnung. Gertrud begründete ihre Neinstimmen mit ihrer Ablehnung des "NS als Weltanschauung ..., da er zum Fluch und ewigen Verderben unseres Volkes gereicht". In einem Bericht des Dekanatsamtes über den Abend des Wahltages heißt es: "Es war in einer Reihe von Lokalen der Stadt die Losung ausgegeben worden: Raus! Mörike wird herausgeholt, verschlagen usf.!" Mörike selbst schilderte die folgenden Ereignisse zwei Wochen später in einer Denkschrift:

"Gegen 11.30 Uhr, fuhr plötzlich ein Auto am Pfarrhaus vor und dann ging’s los. Sofort setzte ein Sprechchor ein: ,Heraus mit dem Landesverräter!’ und was dergleichen ehrenrührige Rufe mehr waren. Als ich nicht öffnete, traten die Schreier mit vereinter Gewalt die ... Haustür ein ..., stürmten die Treppe herauf und ein Vortrupp ... drang in das Schlafzimmer ein, wo ich mich mit meiner Frau und der dreieinhalbjährigen Lene befand und halb angekleidet war. ... Im Wohnzimmer ... harrte meiner eine kampf- und schlagbereite Schar von ca. 12-15 SA-Männern, Zivilisten und einem Werkschärler, die nun unter wüstem Geschrei die Kraft ihrer Fäuste an mir erprobten. ... Ich zog noch Schuhe und Mantel an, zuvor hatte mir meine Frau mit einem nassen Waschlappen das Blut aus dem Gesicht gewaschen, und dann begab ich mich, ... auf den Marsch zum Amtsgerichtsgefängnis." Die hochschwangere Gertrud musste mit ansehen, wie sie ihren Mann zusammenschlugen und ihn danach vor das Haus führten, wo ihm eine Frau ins Gesicht spuckte. Nach seiner Rückkehr aus dem Stuttgarter Gefängnis und einem erneuten nächtlichen Volksauflauf am 19. April fand er bei Freunden auf der Alb Unterschlupf. Gertrud blieb mit den Kindern in Kirchheim, unnachsichtig beäugt vom nationalsozialistischen Mob. Die einzige Freude in diesen Monaten war die Geburt ihres fünften Kindes Ursula im August 1938.

Bild: Familie Mörike im Flachter Pfarrgarten im Jahre 1941. (Foto: Dora Mezger-Mörike) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Licht im Dunkel – das Flachter Pfarrhaus als Versteck für verfolgte Juden
Im Sommer 1939 übernahm Mörike die Pfarreien in Weissach und in Flacht. Die Familie durfte endlich wieder zusammenziehen.

Der Leonberger Kreisleitung war Mörike als "verbissener Gegner des Nationalsozialismus" angekündigt worden. Trotz der zunehmenden eigenen Schwierigkeiten schrieben Gertrud und Otto Mörike unentwegt aufmunternde Briefe an inhaftierte Pfarrer und deren Ehefrauen, schickten Pakete oder luden jene ins Pfarrhaus nach Flacht. Gegen Ende des Jahres 1943 bekamen die Mörikes über den in Reichenbach/Fils wirkenden Freund Theodor Dipper das erste Mal Kontakt mit dem Bruderring, einer kleinen im Verborgenen arbeitenden Organisation, die im wesentlichen aus württembergischen Pfarrfamilien und deren Vertrauten bestand. Diese beherbergten als "Bombenflüchtlinge" getarnte, untergetauchte jüdische Flüchtlinge, vermittelten ihnen Quartiere oder halfen bei ihrer Flucht ins Ausland.

Am 19. Dezember 1943 klopften Max und Karoline Krakauer, alias "Ackermann", das erste Mal im Hause Mörike an. Ende Januar 1943 hatte ihre abenteuerliche Flucht durch Deutschland begonnen, die über 800 bange Tage währte und die beiden durch 66 Häuser von Berlin über Pommern nach Württemberg führte. Fast alle ihre Angehörigen und Freunde wurden ermordet, sie selbst schließlich durch den Einmarsch der Amerikaner erlöst. Beim Pfarrpaar Mörike wohnten die Krakauers vom 19. Dezember 1943 bis zum 17. Januar 1944 und vom 6. bis zum 15. Juni 1944. Über die Identifikation mit dem Schicksal der Krakauers wurde Otto Mörike zu einem der Hauptverantwortlichen des Bruderrings. Bislang lassen sich 13 Menschen nachweisen, die durch diese Organisation zur Rettung untergetauchter Juden unter der Beteiligung der Mörikes versteckt wurden. Schwer zu beschreiben sind Gertruds Ängste, wenn wieder einmal ein Gestapo-Wagen vorfuhr und Otto unterwegs war:

"Da musste man zur eigenen Angst, die man freilich auch bekam, dann immer noch sie (die Kinder) beruhigen und aufbauen. Die Männer waren da ja meist weg, so dass das häufig Frauensache war." Gertrud schrieb an ihre Tochter: "Immer mehr wird die Welt das Licht und die Wärme von Christus her brauchen, und wir wollen bereit sein, diese Lichtträger zu sein. ... Wenn draußen im Felde die Männer haufenweise zugrunde gehn für etwas so Schreckliches wie das Dritte Reich, dann ist es das Gegebene, dass auch wir unser Leben einsetzen für etwas Richtiges, Gutes." ... Für Gertrud und Otto Mörike war der 20. April 1945 "der Tag der Besetzung unserer Gegend durch den Feind und zugleich der Tag der Befreiung vom Tyrannen". Auf die erste Freude folgte die Angst vor Vergewaltigung. In der Nacht zum 21. April versammelten sich 120 und in der folgenden 180 Mädchen und Frauen im Pfarrhaus. Das beherzte Einschreiten Mörikes und gemeinsames lautes Singen verhinderten das Schlimmste. Weg fielen in den folgenden Wochen der ewige Druck, die Beobachtung der Gestapo, die dauernde Angst, abgeholt zu werden. Die versteckten Juden konnten auftauchen, die in den Konzentrationslagern gefangen gehaltenen Freunde kamen frei.

Streitbarer Pfarrer nach 1945
Von 1947 bis 1953 wirkten die Mörikes in Weilimdorf, danach war Otto Mörike bis zu seinem Ruhestand 1957 Dekan in Weinsberg. Er engagierte sich bis ins Alter mit großem Einsatz für seine Projekte, als Leiter der kirchlichen Bruderschaft in Württemberg, als Initiator eines Bruderschaftskreises in Freudenstadt oder als Wanderprediger bei Bibelwochen in Württemberg. Er wurde zum Beauftragten der Aktion Sühnezeichen in Baden-Württemberg, initiierte den Bau eines jüdischen Altenheimes, brachte als streitbarer Beistand alle "seine" Kriegsdienstverweigerer durch das Anerkennungsverfahren und demonstrierte gegen die Atombewaffnung. Ein 70-Jähriger mit weißem Bürstenhaar, aufrecht, den Sportsack geschultert, mit dem Organ des Kanzellöwens in Stuttgarts Straßen rufend: "Die Bombe muss weg!" Sein persönlicher Einsatz kostete Otto seelische Kraft. Er litt unter Depressionen, die ihm jeden Mut nahmen. Doch seine größte Sorge bis zu seinem Tode war, dass die Behandlung und Verfolgung der Juden nach dem Krieg nicht gebührend aufgearbeitet wurden.

Gertrud blieb äußerlich im Hintergrund, teilte jedoch seine theologischen und politischen Ansichten und gab ihm Halt, pflegte und tröstete ihn. Im Ruhestand verstärkte sich die seelische Krankheit ihres Mannes. Als Otto im Juni 1978 in einen unruhigen Todeskampf fiel, sang Gertrud ihm Liederverse, die sie früher gemeinsam gestärkt hatten. Mit ihrem Singen kam Otto zur Ruhe und entschlief. ...

Am 24. Dezember 1982 starb Gertrud Mörike nach kurzer Krankheit.

Gertrud Mörike – Selbstverständnis einer Pfarrfrau
Das für viele heute antiquiert wirkende Selbstverständnis Gertrud Mörikes als Frau und "treue Dienerin" ihres Gatten entsprang den württembergisch-evangelischen Vorstellungen einer Pfarrfrau. Gertrud führte das Pfarrhaus und "ihren" Garten, war Mutter von sechs eigenen und einem Pflegekind und engagierte sich in der Gemeindearbeit. Sie führte regelmäßige Singfreizeiten durch, versah den Orgeldienst und unterrichtete Bauernmädchen darin, leitete Frauenkreise und verantwortete und gestaltete den Kinderkirch- und Religionsunterricht. Im Wissen um die Gefahren für sich und ihre Liebsten äußerte und lebte sie ihre Ideale in ihren Briefen, in ihrer Wahlerklärung und in ihrem Handeln. Die Alltagslasten der Hilfeleistung für untergetauchte Juden und für im KZ Gefangene wurden zuvorderst durch sie getragen. Dies tat sie - wie am Beispiel ihrer insgesamt zwanzig Schwangerschaften deutlich wird - mit teilweise seltsam anmutender Selbstlosigkeit, die an Selbstzerstörung grenzte. Ihr Einsatz und ihre Kraft entsprangen dem Glauben an ihren Gott sowie der Liebe zu ihrem Otto.

Otto Mörike – Frömmigkeit und politisches Engagement
Dieser war durchaus autoritär, mitreißend in seiner Art, theologisch wie politisch "ein Stachel im Gewissen der Menschen", der pieksen konnte, der sich leidenschaftlich einmischte, wenn seiner Meinung nach Ungerechtigkeiten verübt wurden. Otto liebte Gertrud, seine Frau, und seine Kinder. Er liebte seinen Gott und er liebte das Leben, das ist aus seinem Engagement, aus seinen Predigten wie aus allem, was er tat, herauszulesen. Die Frömmigkeit Ottos drückte sich in politischem Handeln wie dem bedingungslosen Einstehen für seinen Glauben gegen die Nationalsozialisten oder der Beteiligung am Bruderring sowie in mehrfachen Andachten täglich aus. Otto Mörike hatte viele Ecken und Kanten, konnte kauzig sein und depressiv, aber sein Elan und seine Kraft wie auch sein Leiden und seine Trauer galten dem Einsatz für Gerechtigkeit.

Gertrud und Otto liebten und achteten einander, und beide schafften es, sich diese Liebe über alle Anfeindungen von außen hinweg bis ins hohe Alter lebendig zu erhalten. Sie teilten die Arbeit im Pfarrhaus und in der Familie und hatten ähnliche Vorstellungen von Leben, Erziehung, Glaube und Politik. Dabei agierte Otto mehr nach außen, leidenschaftlich und unbeirrt, und Gertrud wirkte eher im Hintergrund, klug, besonnen und kraftvoll. Gertrud und Otto waren in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Paar. ...

Der Staat Israel hat Gertrud und Otto Mörike seine höchste zu vergebende Auszeichnung, die Yad Vashem-Medaille, verliehen. Ihnen beiden wurde in der "Allee der Gerechten" in Jerusalem ein Baum gepflanzt.

Der Text wurde gekürzt.

Auszugsweise Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Herausgeber

Eine ungekürzte Version des Artikels über Gertrud und Otto Mörike finden sie hier.

Quellenanlage:
Am 27. November 1939 wurde Otto Mörike vom Sondergericht für den Oberlandesbezirk Stuttgart wegen "Vergehens gegen das Heimtückegesetz", "Kanzelmissbrauch" und "Beleidigung" zu einer Gefängnisstrafe von 10 Monaten verurteilt. Für ein Abschift des Urteils (Pdf-Datei) klicken Sie bitte hier.

Internet-Links:
Biografie Otto Mörike
Otto-Mörike-Stift – Flacht
Jüdisches Museum Göppingen
Gemeinde Weissach

Literaturhinweis:
Joachim Scherrieble
"Du sollst Dich nicht vorenthalten"
Das Leben und der Widerstand von Gertrud und Otto Mörike in der Zeit des Nationalsozialismus.
Hrsg. vom Kreisjugendring Esslingen, Plochingen 1995.

Diese Seite drucken
Zum Seitenanfang

www.zeitreise-bb.de