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Dagersheim>>Streit um den Weltanschauungsunterricht
Zwischen Kirche und NS-Ideologie

Der Streit um den Weltanschauungsunterricht in Dagersheim

Quelle: Widerständig – streitbar – revolutionär. Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte und Alltagsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte im Landkreis Böblingen. Herausgegeben von der Frauenbeauftragten des Landkreises Böblingen, Böblingen 1999, S. 128-130

Autorin: Dr. Helga Hager
In Dagersheim fanden sehr langwierige und unerbittlich geführte Auseinandersetzungen um den Weltanschauungsunterricht (WAU) an der Volksschule statt. Dieser wurde in Württemberg im März 1939 für all jene Schüler und Schülerinnen eingeführt, die den Religionsunterricht auf Wunsch ihrer Eltern nicht mehr besuchten; er diente der nationalsozialistischen Erziehung der deutschen Jugend und sollte diese „an die letzten und tiefsten Fragen heranführen"1*. ... Für alle - die Mütter, den Pfarrer, den Schul- und Ortsgruppenleiter - ging es dabei um weit mehr als die Behauptung oder Verdrängung des Faches Religion im Unterricht: Ihre soziale Autorität stand auf dem Spiel.

Bild: Mit dieser Eingabe protestierten 30 Dagersheimer Mütter, 4 Väter und Ortspfarrer Brecht gegen die zwangsweise Durchführung des Weltanschauungsunterrichts durch Oberlehrer und NSDAP-Ortsgruppenleiter Wolf. (Aus: Widerständig – streitbar – revolutionär, Böblingen 1999, S. 129) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Recht auf Religionsunterricht
Der Geistliche Brecht schreibt in der Kriegschronik:

„Im Januar 1941 beklagten sich verschiedene Mütter beim Ortspfarrer wiederholt darüber, daß ihre Kinder im fünften und sechsten Schuljahr keinen evangelischen Religionsunterricht erhalten, obgleich dieser laut Erlaß des Reichserziehungsministers vom Febr. 1940 ordentliches Schulfach sei. Sie können es nicht begreifen, daß Ortsgruppenleiter und Schulleiter Wolf sich über diese klare Bestimmung des Gesetzes eigenmächtig hinwegsetze und in den für Religionsunterricht bestimmten Stunden alles Mögliche andere behandle, nur keine religiösen und biblischen Stoffe. Sie hätten ihre Kinder nicht zum WAU angemeldet und hätten deshalb ein Recht auf Religionsunterricht."2* Während nun der Pfarrer, wie er es in seiner Rückschau darstellt, daran interessiert war, dass die Mütter den Protest dem Schulleiter [„Oberlehrer"] persönlich vorbrachten, befürchteten diese weitreichende Sanktionen3*. ... Die daraufhin vom Geistlichen selbst eingelegte Beschwerde beim Bezirksschulamt lief zunächst ins Leere; erst der Vorstoß bei der Ministerialabteilung für die Volksschulen in Stuttgart bewirkte ein Jahr später die Enthebung des Oberlehrers vom lehrplanmäßigen Religionsunterricht für die besagten Klassen.

Konflikt zwischen Pfarrer und NSDAP-Ortsgruppenleiter
Der Konflikt zwischen Pfarrer und Ortsgruppenleiter setzte sich auf einer allgemeineren Ebene fort und beschäftigte den Oberkirchenrat wie auch den Kultusminister. Im Mai 1944 trat noch einmal der Weltanschauungsunterricht in den Mittelpunkt, wobei vor allem nun die Schulkinder und Mütter unmittelbar mit einbezogen waren; es scheint sogar, dass die Schüler und Schülerinnen selbst die Auslöser waren. Der Pfarrer berichtet darüber ausführlich am 15. Juni 1944 dem Oberkirchenrat:

„ ... Am 23. Mai sagten mir die Konfirmanden, am 24. Mai die Zuhörer im Unterricht, daß 0(ber)l(ehrer) Wolf sie immer freitags von halb zwölf bis halb ein Uhr, wo schon länger nach dem Stundenplan Weltanschauungsunterricht ist, dazu dabehalte. Auf ihre Erklärung, daß sie an dem WAU nicht teilnehmen wollen und nach dem Willen ihrer Eltern auch nicht teilnehmen dürfen, habe er ihnen gesagt, das sei gar kein 'WAU'4*." Im weiteren Fortgang wird deutlich, dass der Pfarrer bemüht war, die Amtsautorität des Oberlehrers nicht zu verletzen. Während die Schulkinder spontan der besagten Stunde fernbleiben wollten, riet er ihnen zur Einholung einer schriftlichen Erlaubnis bei den Eltern. Als diese nichts bewirkte, entschlossen sich er und die „Mütter der Konfirmanden und Zuhörer" zu einer Eingabe an das Bezirksschulamt; diese wurde von 30 Müttern und vier Vätern unterzeichnet.

Eingabe an das Oberschulamt
Die Unterzeichnenden stellten sich also offiziell gegen eine der wichtigsten Amtspersonen am Ort bzw. gegen den leitenden Parteifunktionär, was von einem erheblichen Unmut zeugt. Mehr noch: Die Eingabe demonstriert die Abkehr vom Autoritätsdenken. Damit war der Konflikt vor Ort jedoch keineswegs gelöst - im Gegenteil: Er verlagerte sich auf die Ebene der Schüler und Schülerinnen. Diese suchten nach eindeutiger Orientierung, die sie allem Anschein nach nicht erhielten. Während die einen von sich aus dem WAU fernblieben, waren andere zögerlicher. Auf Befragen des Pfarrers, ob sie den vom Oberlehrer angeordneten Arrest für das Fernbleiben in der fraglichen Stunde antreten sollten, bekamen sie die Auskunft, dass der Arrest zwar nicht rechtmäßig sei, dass sie ihn jedoch „zur Vermeidung von weiteren Streitereien" absitzen sollten5*.

Der Konflikt eskaliert
Zuletzt riet der Pfarrer wiederum zur Eigeninitiative der Mütter:

„Am Freitag, den 9. Juni 1944, um halb zwölf Uhr gingen sieben Mütter ins Schulhaus und baten in allem Anstand ihn um Auskunft wegen des WAU, sie würden ihre Kinder unter keinen Umständen in einen solchen hineinlassen. 0(ber)l(ehrer) Wolf hat sie brüsk abgefertigt, er habe jetzt keine Sprechstunde und vor ihnen die Tür mit einer Wucht zugeschlagen, daß das Haus zitterte; ich habe das selbst unten in meinem Schullokal gehört. Eine Frau (Emilie Kappler) machte die Türe wieder auf, setzte ihren Fuß dazwischen und forderte ihren Buben auf, mit ihr heimzugehen. Wolf hinderte ihn daran, stalpte die Frau auf den Fuß, um die Türe frei zu bekommen und klemmte ihr beim Zuschlagen der Türe die linke Hand so hinein, daß [sie] dieselbe von der Krankenschwester verbinden lassen mußte6*." Die Protestaktion endete für die Mütter mit einer Vernehmung durch zwei Landjäger; dies habe, so der Pfarrer, am Ort eine „große Erregung" hervorgerufen. Ob die Mütter dem Druck gewichen sind oder nun endgültig den WAU boykottierten, lässt der Pfarrer offen. Ihm selbst sei vorn Bürgermeister das Betreten des Schulgebäudes und „auf Weisung" der Gestapo jegliche Erörterung der Vorgänge in der Kirche sowie in der Öffentlichkeit verboten worden. Ferner seien noch verschiedene Sanktionen gefolgt wie ein Verhör bei der Gestapo, die Entziehung der Genehmigung zum lehrplanmäßigen Religionsunterricht sowie eine Anklage vor dem Gaugericht7*.

Auswirkungen auf die Schüler
Nur andeutungsweise verraten die Quellen, welche Auswirkungen dieser Konkurrenzkampf zwischen Weltanschauungs- und Religionsunterricht auf die betroffenen Schüler und Schülerinnen hatte. Der Pfarrer spricht schon früh von „verheerenden Konsequenzen":

„Am 30. März 1941, am Tag der Konfirmation, sagte der Ortsgruppenleiter Wolf in einer öffentlichen Rede vor der Jugend bei der Aufnahme in die HJ [Hitler-Jugend] u. a. : 'Es hat einer gesagt: So Dich jemand schlägt auf den rechten Backen, dem biete den linken auch dar.' Wir sagen: 'Dann gib ihm zwei'. ...

Mädchen der Oberklasse haben dem Ortspfarrer erklärt: 'Der Wolf glaubt nicht, der Pfarrer redet im Unterricht anders als der Wolf, wem sollen wir nun glauben? Wir glauben nun auch nichts'." Mit diesem Bekenntnis, „nun auch nichts (zu) glauben", brachten die Mädchen zunächst einmal ihre Verunsicherung und ihren Trotz über den Verlust der Eindeutigkeit zum Ausdruck. Sie wünschten klare Konturen, ein Entweder/Oder - ein dritter, eigenständiger Weg war für sie nicht denkbar.

Weshalb orientierten sie sich an der weltlich-politischen - und nicht an der kirchlichen Autorität? Dafür lassen sich viele pragmatische Gründe finden: die alltägliche Indoktrination des Lehrers, die wenig attraktive, 'antiquierte' kirchliche Freizeitorganisation, das Dazugehörenwollen. So führt der Pfarrer an, dass Konfirmandinnen, die am Erntedankfest 1940 in der Kirche mit anderen Mädchen „bei einem Festlied mitgesungen" hätten, vom Oberlehrer vor der versammelten Schulklasse gemaßregelt worden seien: Wer sich an diesem Singen beteiligt habe, sei „kein rechtes deutsches Mädchen". Ferner ist naheliegend, dass die Aura der „Höherwertigkeit", die Inszenierung männlicher Stärke in Uniformen und Aufmärschen zur Identifikation mit dem Oberlehrer anregte. Nicht zuletzt dürfte hier auch jene besondere „Faszination" eine Rolle gespielt haben, die Hitler auf junge Mädchen ausübte. ...

1

Aus: Jörg Thierfelder: Die Auseinandersetzung um Schulform und Religionsunterricht im Dritten Reich zwischen Staat und ev. Kirche in Württemberg. In: Manfred Heinemann (Hg.): Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 1: Kindergarten, Schule, Jugend, Berufserziehung, Stuttgart 1980, s. S. 242-244.

2

Landeskirchliches Archiv Stuttgart (LKA) A 126/119, Kriegschronik Dagersheim, S. 20f.

3

„Das müßten dann ihre Kinder in der Schule büßen, und für ihre Männer, die für die Fabrik reklamiert seien, müßten sie befürchten, daß Ob(er)|(eh-rer) Wolf als Ortsgruppenleiter dafür sorgen würde, daß sie einrücken müßten." Aus: LKA A 126/119, Kriegschronik Dagersheim, S. 21.

4

Ebd., S. 24

5

Ebd., S. 25f.

6

Ebd., S. 26

7

Ebd., S. 27

Der Text wurde gekürzt.

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

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