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Rohrau>>Oberamtsbeschreibung
„Die Einwohner sind körperlich nicht sehr bevorzugt“

Rohrau in der Herrenberger Oberamtsbeschreibung von 1855

Quelle: Beschreibung des Oberamts Herrenberg. Herausgegeben von dem königlichen statistisch-topographischen Bureau, Stuttgart 1855

Bild: Rohrau aus westlicher Richtung gesehen auf einer alten Postkarte. (Aus: Herrenberg – Stadt und Amt in alten Ansichtskarten, hrsg. von T. Schmolz und R. Janssen, Herrenberg 1988, S. 103)

Rohrau, Gemeinde III. Klasse mit 537 ev. Einw. Pfarr-Filial von Nufringen

Das kleine, freundliche Dorf liegt still und abgeschieden am Fuß der Schönbuchsterrasse, ½ Stunde von dem Mutterort und 5/4 Stunden östlich von der Oberamtsstadt. Ein laufender Brunnen versorgt das ganze Jahr hindurch die Einwohner hinreichend mit Wasser, das übrigens Gipstheile mit sich führt und wohl auch Ursache von dem nicht selten in der Gemeinde vorkommenden Kretinismus1* sein mag. Wette ist keine vorhanden, dagegen kann der ½ Stunde südwestlich vom Ort in dem sogenannten kalten Brunnen entspringende Krebsbach, der Rohrau auf der östlichen Seite berührt, bei Feuersgefahr mittelst einer Stellfalle geschwellt werden. Der Bach, welcher von den in ihm häufig sich aufhaltenden Krebsen seinen Namen erhalten hat, tritt bei starken Regengüssen und schnellem Schneeabgang öfters aus seinem Bett und schadet dann den nahe liegenden Wiesengründen. Etwa 1/8 Stunde nördlich vom Ort befindet sich in dem flachen Wiesenthälchen eine Quelle, das Sulzbrünnle genannt, deren Wasser zuweilen von Kranken - besonders von solchen, die mit Krätze behaftet sind, gebraucht wird.

Die im Jahre 1700 in einem nichtssagenden Styl erbaute Kirche, deren schadhaft gewordener Thurm im Jahre 1749 neu errichtet wurde, steht in geringer Entfernung außerhalb (westlich) des Orts auf einem künstlich aufgeworfenen Hügel, welcher die Burg genannt wird, wie denn der Sage nach auf demselben ein Schloß und später eine Kapelle gestanden sein soll. ... Die Unterhaltung der Kirche liegt der Gemeinde ob. Ein Begräbnißplatz wurde im Jahr 1833 östlich vom Ort angelegt; früher mußten die Verstorbenen in Nufringen beerdigt werden.

Auf einem freien Platze, beinahe in der Mitte des Orts, steht das ziemlich gut erhaltene Rathaus, in welchem sich auch die Schule nebst der Wohnung des an derselben angestellten Schulmeisters befindet; seit einigen Jahren besteht eine Industrieschule. Ein Gemeindebackhaus wurde 1844 errichtet, und ein Gemeindewaschhaus besteht schon längst. Die am westlichen Ortsende stehende hofkammerliche Zehentscheuer hat die Gemeinde in neuester Zeit um 400 fl.2* angekauft.

Die Einwohner sind körperlich nicht sehr bevorzugt, und bei ihrer in Folge der schon erwähnten Neigung zum Kretinismus schwächlichen Körperconstitution und der Abgeschiedenheit ihres Wohnorts weniger gewandt als die Nufringer, im Allgemeinen übrigens fleißig, sparsam und kirchlich gesinnt. Ihre Vermögensumstände gehören mit wenigen Ausnahmen zu den geringeren. Erwerbsquellen sind: Ackerbau und hauptsächlich Viehzucht; die Unbemittelten, deren es viele gibt, bauen den östlich vom Ort anstehenden Keupergips ab, den sie in den zwei im Ort vorhandenen Gipsmühlen mahlen und dann in der Umgegend absetzen. Einzelne gewinnen auch aus den nicht fern von den Gipsgruben gelegenen Steinbrüchen weißen Stubensand, durch dessen Absatz sie sich einen spärlichen Verdienst sichern. ...

Zu diesen minder ergiebigen Bodenverhältnissen gesellt sich überdieß noch ein ungünstiges Klima, indem Frühlingsfröste und kalte Nebel, welche in der Richtung von Eningen her in die Gegend ziehen, nicht nur häufig dem Obst, sondern auch zuweilen dem Dinkel in der Blüthe schaden. Hagelschlag kommt nicht selten vor.

Unter diesen von Natur ungünstigen Verhältnissen ist es wohl erklärlich, daß die Landwirthschaft, trotz der Emsigkeit der Einwohner, dennoch auf keiner blühenden Stufe steht; indessen wird die Rindviehzucht durch einen ziemlich ausgedehnten und ertragreichen Wiesenbau kräftig unterstützt und bildet eine Hauptnahrungsquelle der Einwohner. Landwirthschaftliche Neuerungen finden nur langsam Eingang, ... . Der größte Güterbesitz besteht in 30 Morgen.3* ...

Die Gewerbe sind von keinem Belang und beschränken sich auf die nöthigsten Handwerker; eine Schildwirthschaft und zwei Krämer befinden sich im Ort. ...

Der ursprünglich pfalzgräflich tübingische Ort kam, vielleicht um 1270, durch Heirath an das gräfliche Haus Hohenberg.

Den 13. Dezember 1330 verschrieben Graf Rudolf von Hohenberg († 1336) und sein gleichnamiger Sohn ihre Burg „Rorowe“ mit aller Zugehörde an die Grafen Rudolf und Konrad Gebrüder die Scheerer als Pfand für 650 Pfund Heller und versprachen dafür zu sorgen, daß der St. Johanniterorden sich seiner Ansprüche auf dieselbe verzöge (Schmid Urk. 160). Genannte Ansprüche des Ordens wurden wirklich durch den obigen Grafen Rudolf von Hohenberg d. ä. am 5. Dezember 1332 vermittelst Ueberlassung des Fronhofes und Kirchensatzes in Dätzingen befriedigt, und nun veräußerten den 30. Januar 1338 die Grafen Albrecht, Hugo und Heinrich von Hohenberg, Söhne eben dieses Grafen Rudolf d. ä., dessen gleichnamiger Sohn inzwischen gestorben war, ihre Burg Rohrau mit aller Zugehörde „für ein frei Eigen“ um 1020 Pfund Heller an den Grafen Konrad den Scheerer (Schmid Urk. 177), welcher noch im Jahre 1342 Hölzer von Röffeli von Gärtringen hinzukaufte.

Aber nicht lange war Rohrau zu dem Haus der früheren Oberherren zurückgekommen, als Pfalzgraf Konrad, der gleichnamige Sohn des Rückkäufers, Burg und zugehörenden Ort am 10. Februar 1382 mit Herrenberg an Württemberg verkaufte. ...

In kirchlicher Beziehung gehörte Rohrau vor dem Jahre 1540 zur Pfarrei Ehningen (O.A. Böblingen) und mit derselben vor der Reformation zur Karthause Güterstein. Im Jahre 1540 wurde Rohrau Filial von Nufringen.

1

Durch einen Mangel an Schilddrüsenhormonen hervorgerufene, schwere körperliche und geistige Entwicklungsstörung (Zwergwuchs, Deformationen, ausgeprägter Schwachsinn). Heute in den Industrieländern ausgerottet, im 19. Jh. aber v.a. in den Jodmangelgebieten Süddeutschlands und der Schweiz auffällig stark verbreitet (endemischer Kretinismus).

2

1 Gulden (fl) = 60 Kreuzer (kr). Nach der Währungsumstellung entsprach 1 Gulden ca. 1,71 Mark. Legt man für eine grobe Währungsumrechnung bestimmte aktuelle Lebensmittelpreise zugrunde, dürfte ein Kreuzer etwa den Gegenwert von 0,80 € gehabt haben. Die Guldenwährung im süddeutschen Raum bestand von ca. 1550 – 1875.

3

1 württ. Morgen = 31,52 Ar

Der Text wurde gekürzt.

Mit freundlicher Genehmigung des Bissinger-Verlags Magstadt

Die Württembergischen Oberamtsbeschreibungen
Im Jahre 1820 wurde auf Dekret des württembergischen Königs Wilhelm I das “königliche statistisch-topographische Bureau“ in Stuttgart gegründet. Zwischen 1824 und 1886 wurden dort genaue Beschreibungen aller 64 württembergischen Verwaltungsbezirke und ihrer Gemeinden erarbeitet. Als 34. Band erschien im Jahre 1855 die Beschreibung des Oberamts Herrenberg. Die Oberamtsbeschreibungen sind eine interessante und unverzichtbare Quelle zur württembergischen Landeskunde und werden als Reprint immer wieder aufgelegt.

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