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Das Durchgangslager Unterjettingen

Zwischenstation für 19.000 Heimatvertriebene im Kreis Böblingen

Quelle: Die Vertriebenen im Kreis Böblingen. Herausgegeben vom Bund der Vertriebenen (BdV) - Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände - Kreisverband Böblingen, Röhm Verlag, Sindelfingen, 1992

Autor: Dr. Benno Kubin
Nachdem die Alliierten auf der Konferenz von Potsdam eine "geregelte, humane, von den Siegermächten überwachte Umsiedlung" der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten beschlossen hatten, wurden bis Ende Oktober 1945 auch im Kreis Böblingen die notwendigen organisatorischen Strukturen für die Aufnahme der Flüchtlingsströme geschaffen. Der Zugang in den Kreis erfolgte über das inzwischen geschaffene Durchgangslager Unterjettingen.

Verhältnisse im Unterjettinger Lager
Das Durchgangslager, in dem nunmehr die Aufnahme und Registrierung der Ostflüchtlinge erfolgte, lag in einem Laubwald der Markung Unterjettingen, dem Bühlwald, im sogenannten "Kehrhau". Es war aus den Baracken einer ehemaligen Munitionsanstalt entstanden. Die Verhältnisse waren entsprechend primitiv. Eine Kanalisation war nicht vorhanden. Die Abwässer flossen in den Straßengräben talabwärts. Die um die Baracken erstellten Notlatrinen bedeuteten wegen des geologischen Aufbaus eine ständige Gesundheitsbedrohung. Das Trinkwasser kam aus der Wasserversorgung der Gemeinde Unterjettingen, dennoch wurden bei vier Untersuchungen im Jahr 1946 Bakterien festgestellt, sodass es nur in gekochtem Zustand für den menschlichen Genuss geeignet war. Wiederholt traten fieberhafte Erkrankungen des Magen- und Darmtrakts auf.

Das Lager bestand aus 7 Wohnbaracken zur Aufnahme der Flüchtlinge. Die Belegungsdichte war oft so groß, dass die Insassen zwischen den doppelstöckigen Betten nur seitlich durchgehen konnten und keinen Platz zum Essen oder für sonstige Verrichtungen hatten. Die Barackenräume waren außerordentlich feucht und konnten nicht gelüftet werden, da die Fenster von den Kriegsschäden noch nicht verglast, sondern nur mit Brettern vernagelt waren. Die Fußböden bestanden aus Zement und waren daher ständig kalt. Die Ofenheizung in den feuchten und nicht gelüfteten Räumen war unzureichend und trug noch zur Verschlechterung der Luft bei. Um den einzigen Ofen in den Baracken herum war nur ein kleiner Raum vorhanden. Das Durchgangslager war somit höchstens für einen Aufenthalt von 14 Tagen in der wärmeren Jahreszeit geeignet.

Spärliche Aktenlage
Leider sind Unterlagen über das Durchgangslager Unterjettingen aus der Zeit des Eintreffens der Flüchtlingstransporte im Jahr 1946 kaum vorhanden. Die Akten, vor allem die Transportlisten, wurden offensichtlich beim wiederholten Umzug der betreuenden Flüchtlingsleitstelle ausgeschieden. Die wenigen noch auffindbaren Unterlagen ergeben folgendes Bild: ... Das Innenministerium teilte dem Landrat das Eintreffen der Transporte mit und verständigte gleichzeitig das Flüchtlingsreferat des Landratsamts, das damals von Herrn Huttel geleitet wurde. An der Ausladestation im Bahnhof Herrenberg nahm Herr Danner die Ankömmlinge in Empfang und brachte sie in das Lager Unterjettingen. Im Durchgangslager übernahm die Erfassung Herr Haase, der gleichzeitig Sachbearbeiter des Suchdienstes war. Die weitere Betreuung erfolgte durch den Lagerleiter Mayer. ...

Erhaltene Transportliste
Eine von einem Transportleiter aufbewahrte Namensliste kann hier wiedergegeben werden: Sie zeigt die Belegung des Waggons Nr. 39 eines am 21. Juni 1946 im Aussiedlungslager Zwittau/Mähren zusammengestellten Transports. Als Transportleiter für diesen Waggon wurde der heute in Böblingen wohnhafte Ferdinand Grotz bestimmt, weil er die tschechische Sprache einigermaßen beherrschte. Er hat das ihm übergebene Namensverzeichnis später durch Übersetzungen und den Hinweis auf den endgültigen Wohnort der Vertriebenen ergänzt. Dazu hat er die letzten 4 Spalten des tschechischen Vordrucks verwendet, die den Namen des Geldinstituts, die Höhe der Geldeinlage, den ausgezahlten Betrag und die Unterschrift des Empfängers enthalten sollten. Diese Spalten blieben unausgefüllt, weil die Transportinsassen ihre Sparbücher und die größeren Geldbeträge bereits in ihren Gemeinden oder im Aussiedlungslager abgeben mussten. Die ihnen belassenen kleineren Geldbeträge wurden vor dem Überschreiten der tschechischen Grenze nochmals kontrolliert. Jeder erhielt einen Betrag von 50 RM, obwohl nach den Bestimmungen je Familie bis zu 1 000 RM ausgeführt werden durften. Nach drei Tagen erreichte der Transport die deutsche Grenze. Während dieser Zeit erhielten die Waggoninsassen von den Tschechen nur einmal Verpflegung und es starb der 69jährige Josef Frumolt wegen erlittener schwerer Misshandlungen. Der Verstorbene konnte erst in Bayern dem Roten Kreuz zur Beerdigung übergeben werden. Nach weiteren vier Tagen erreichte der Transport endlich das Durchgangslager Unterjettingen und am 19. Juli 1946 wurden die Familien in die Gemeinden Öschelbronn, Sindelfingen, Deufringen und Aidlingen eingewiesen.

Bild: Lageplan des Durchgangslagers Unterjettingen vom 9.1.1946 (Aus: Die Vertriebenen im Kreis Böblingen, hrsg. vom BdV - Kreisverband Böblingen, Sindelfingen 1992) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Gesundheitliche Betreuung
Für die gesundheitliche Betreuung stand eine Krankenstation zur Verfügung, die zunächst von dem Arzt Dr. Burckhardt und nach dessen Ausscheiden von Dr. Karst geleitet wurde. Die Verpflegung erfolgte durch die Lagerküche.

In einer Entfernung von etwa 3 Kilometern in einer winterfesten Baracke mit Wasseranschluss bestand außerdem ein Hilfskrankenhaus. Die Einrichtung für die interne Behandlung, die kleine Chirurgie und ein kleines Labor, aber auch die sonstige Ausstattung waren bescheiden. So standen z. B. Bettschüsseln nur in beschränkter Anzahl zur Verfügung, und die Abortanlage war etwa 25 Meter entfernt und der Gang dorthin ohne Dach. Eine kleine Teeküche war vorhanden, das Essen wurde von der Küche des Durchgangslagers geliefert. ...

Die Kosten für das Durchgangslager, seine Einrichtung, die Instandsetzung und die Personalausgaben wurden aus dem Sonderhaushalt des Landes für das Flüchtlingswesen bestritten und dem Kreis Böblingen in voller Höhe ersetzt.

Bericht des Lagerarztes
Ein Bericht des Lagerarztes vom 12. November 1946 schildert die damaligen Verhältnisse im Durchgangslager. Die Zusammensetzung der Transporte sei im allgemeinen während des Jahres gleich geblieben, doch wurde bei den letzten Transporten ein höheres Durchschnittsalter festgestellt. Besonders hoch sei die Zahl der über 70-Jährigen, für die eine Unterbringung in Altersheimen erforderlich sei. Die Zahl der arbeitsfähigen Männer betrage etwa 20 %. Der allgemeine Gesundheitszustand im Lager sei als ausreichend zu bezeichnen, wenn die Belegstärke 1.000 und 1.200 Personen von nicht allzu langer Dauer sei. Bei einer Belegung des Lagers mit 1.500 und mehr Personen, wie dies zweimal der Fall gewesen sei, könne eine Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Lagerhygiene und die gesundheitliche Sicherheit der Lagerinsassen nicht übernommen werden. Im Winter wäre nur eine Unterbringung von 600 Personen möglich, und außerdem seien umfangreiche Arbeiten durchzuführen, um das Lager winterfest zu machen. Nach Vollendung der beiden Großsanitäranlagen stehe eine ausreichende Anzahl von Aborten zur Verfügung. Allerdings sei die Kanalisation wegen des Fehlens von Rohren noch nicht vollständig. Die Verpflegung sei ausreichend. Im Lager bestehe eine einwandfreie Großküchenanlage. Für die Kinder wären Sonderzuteilungen erwünscht. ...

Altenheim in Dätzingen
Besonders dringlich erwies sich bei der Unterbringung der Flüchtlinge die Schaffung eines Altersheims. Bei den in den Kreis Böblingen seit dem 15. März 1946 Eingewiesenen befanden sich 946 Personen über 70 Jahre. Mindestens ein Drittel dieser Personen hatte keine Angehörigen und etwa 100 waren bettlägerig, krank oder sonst pflegebedürftig. Eine Versorgung dieser Personen in den Gemeinden war zu dem damaligen Zeitpunkt völlig unmöglich. Erst nach Räumung des Schlosses Dätzingen durch die UNRRA1* bot sich die Möglichkeit zur Einrichtung eines Altersheims, in dem 90 Personen untergebracht werden konnten. ...

Durchgangslager für 19.000 Vertriebene
Aus der Zahl der durchgeschleusten Personen (etwa 19.000) und dem Zeitpunkt des Eintreffens der Transporte in den Monaten Februar bis zum Herbst 1946 kann geschlossen werden, dass der Durchschnittsaufenthalt zwischen 10 und 14 Tagen betrug. Nach dem Aufhören der Vertriebenentransporte wurde das Durchgangslager Unterjettingen von der Militärregierung für die Unterbringung von ausländischen Flüchtlingen (DP2*- und IRO-Flüchtlinge3*) bestimmt. Es wurden im Laufe der Jahre 1947 bis 1949 zahlreiche Verbesserungen, vor allem baulicher Art, durchgeführt. Das Lager verblieb weiterhin in der Verwaltung der Dienststellen für das Flüchtlingswesen.

1

UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration): Unterorganisation der UNO (Vereinte Nationen) für Flüchtlingsfragen. Die Arbeit der UNNRA erstreckte sich über zwei Jahre (bis 30. Juni 1947); in dieser Zeit hatte sie es geschafft, allein aus "Deutschland" 6 173 213 sogenannte DP's (siehe Anm. 2) zu repatriieren.

2

DP (Displaced Person): Bei Kriegsende befanden sich in "Deutschland" 9 620 000 Zwangsarbeiter aus von der deutschen Wehrmacht besetzten Ländern, von denen sich 1,9 Millionen als Kriegsgefangene in Arbeitslagern befanden; diese DP's wurden von der UNRRA betreut und in ihre Heimatländer zurückgebracht (repatriiert), was im Falle polnischer, baltischer und sowjetischer DP's häufig mit größten Schwierigkeiten verbunden war, da diese in ihren Heimatländern erneut mit politischer Diskriminierung zu rechnen hatten. Ein UN-Beschluß vom Februar 1946 gab diesen das Recht, auf die Rückkehr zu verzichten; dennoch führte die Sowjetunion in ihrem Machtbereich Zwangsrepatriierungen durch.

3

IRO (International Refugees Organisation): Im Dezember 1946 gegründete Flüchtlingshilfsorganisation, die ab Juni 1947 z.T. die Arbeit der UNRRA übernahm, allerdings nur "echte" Flüchtlinge betreuen sollte. Ausgenommen davon waren Kriegsverbrecher/Quislinge/Verräter, Kollaborateure, gewöhnliche Verbrecher, sogenannte "Volksdeutsche" (Flüchtlinge /Vertriebene aus Ost- und Südosteuropa), Flüchtlinge, die von ihrem Heimatland Unterstützung erhielten sowie Personen, die nach Kriegsende in Terrororganisationen aktiv waren.

Der Text wurde gekürzt

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des BdV-Kreisverband Böblingen

Siehe hierzu den Erlebnisbericht von Ilse Schulz (*1933) als Pdf-Datei:
Von Bennisch nach Tailfingen

Bund der Vertriebenen

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