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Eingliederung der Heimatvertriebenen im Landkreis Böblingen

Rucksackpriester und Notbehausungen

Quelle: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren, Röhm Verlag, Sindelfingen 1999, S. 120 - 121

Bild: Heimatvertriebene in Aidlingen vor den Baracken auf dem Sonnenberg. (Bild: Archiv der Ostdeutschen Heimatstube Aidlingen) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

„Mit Kuhmist haben sie Ziegelsteine gebrannt und die ersten Häuser errichtet“, erinnerte sich Alt-Bürgermeister Erwin Lamparter an die Anfänge der Heimatvertriebenen in Maichingen. Der Wohnungsbau wurde zur größten Herausforderung bei der Eingliederung der Vertriebenen im Kreis Böblingen.

Der Kreishilfsverband der vertriebenen Deutschen hatte ein „Weißbuch über das Wohnungselend im Kreis Böblingen“ erstellt - und die Behörden reagierten. Innerhalb kurzer Zeit wurden die größten Missstände beseitigt. Zudem lief der soziale Wohnungsbau an. Dennoch war 1953 nur ein Viertel aller Vertriebenen in einer eigenen Wohnung untergebracht. Die meisten waren bei einheimischen Familien einquartiert. Knapp zehn Prozent hausten noch in 282 Baracken und 350 Notwohnungen. Nicht nur bei den Wohnungen klemmte es. Die überwiegend katholischen Neuankömmlinge hatten im protestantischen Schönbuch und Gäu nicht genügend Kirchen. Ganze vier Priester und fünf katholische Gotteshäuser gab es 1949 im Kreis Böblingen: In Sindelfingen, Herrenberg, Dätzingen, Weil der Stadt und Böblingen. Vorübergehend wurden in einigen Orten Seelsorgestellen eingerichtet.

Bild: Die katholische Kirche „Mariä Himmelfahrt“ in Aidlingen wurde von den Heimatvertriebenen in Eigenarbeit errichtet. (Bild: Archiv der Ostdeutschen Heimatstube in Aidlingen)

Fünf Predigten pro Sonntag
Die evangelische Kirche stellte ihre Kirchen für Gottesdienste zur Verfügung. Mit Fahrrad und Rucksack machten sich die Priester an den Wochenenden auf den Weg. Bis zu fünf Predigten standen an einem Sonntag auf dem Programm. 1950 wurden dann in Aidlingen und Waldenbuch die ersten nach dem Krieg gebauten katholischen Kirchen geweiht. Inzwischen gibt es im Kreis Böblingen über 40 katholische Kirchen.

Langsam ging es wieder aufwärts für die Flüchtlinge, die meist ihr ganzes Hab und Gut und auch ihre berufliche Existenz hatten aufgeben müssen. Eine gewisse Entschädigung brachte 1952 das Lastenausgleichsgesetz, das vielen Neubürgern im Landkreis die Gründung einer neuen Existenz ermöglichte und die Altersversorgung sicherte.

In Böblingen wurde zunächst ein Soforthilfeamt eingerichtet. 1954 zog das Amt - inzwischen Ausgleichsamt - ins alte Finanzamt in der Sindelfinger Straße. Bis zu 50 Beschäftigte bearbeiteten in den Folgejahren insgesamt 165.000 Anträge von Vertriebenen: Anträge auf Entschädigung, auf Rente, auf Darlehen. Bis 1989 wurden über 600 Millionen Mark an die Vertriebenen im Kreis Böblingen gezahlt.

Bild: BdV-Siedlung in Maichingen (Krautgartensiedlung), Haulucke und Schlesienstraße. (Aus: Die Vertriebenen im Kreis Böblingen, Sindelfingen 1992, S. 147, Foto: Piewak, Sindelfingen)

Dennoch bedeutete die Vertreibung für nicht wenige einen sozialen Abstieg. Waren vor der Vertreibung knapp 40 Prozent selbstständig, waren es 1958 im Kreis Böblingen gerade einmal sechs Prozent. Vor allem Bauern fiel der Neuanfang schwer. Nur 19 von Tausenden vertriebener Bauern fassten in ihrem alten Beruf wieder Fuß. Inzwischen setzte sich der Kreisverband des Bundes der Vertriebenen (BdV) für die Neuankömmlinge ein. In die Gemeinderäte und den Kreistag zogen immer mehr Kandidaten von Vertriebenen-Listen ein. Auch im Landtag waren die Heimatvertriebenen aus dem Kreis Böblingen vertreten. Die Ortsverbände des BdV versuchten, mit ihrer Kulturarbeit die Sitten und Gebräuche ihrer Heimat zu pflegen. Heimatfeste, Folkloreveranstaltungen und Musikkapellen sind Ausdruck der kulturellen Bereicherung in den Gemeinden.

In einigen Gemeinden wurden Heimatmuseen und -stuben eingerichtet. 1969 eröffneten Bundeskanzler Kiesinger und Ministerpräsident Filbinger das Haus der Donauschwaben in Sindelfingen. Ganze Straßenzüge und Wohnviertel wurden nach Vertreibungsregionen benannt, Städte und Gemeinden übernahmen Patenschaften für ostdeutsche Volksgruppen und Gemeinden.

In den siebziger Jahren setzte langsam eine Wende ein. Einige BdV-Ortsverbände wurden aufgelöst. Die Vertriebenen kandidierten nicht mehr auf eigenen Listen, sie hatten inzwischen bei anderen Parteien eine politische Heimat gefunden - Ausdruck dafür, dass die Integration der Heimatvertriebenen weitgehend abgeschlossen war.

Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung

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