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Ost-West-Gefälle bis in den Tod

Zwangsarbeiter in Sindelfingen

Quelle: Das 20. Jahrhundert im Spiegel der Zeit. Der Kreis Böblingen im Rückblick von 100 Jahren. Röhm Verlag Sindelfingen 1999, S. 96
Zwangsarbeiter gab es während des Zweiten Weltkriegs offiziell nicht. In der Naziterminologie war stets von „Fremdarbeitern“ die Rede – ein Begriff, der Angeworbene, Verschleppte, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge auf einen Nenner bringen wollte. Auf jeden Fall verfälschte er die Wirklichkeit, denn von diesen 14 Millionen Menschen „sind keine 200 000 freiwillig gekommen“, wie Fritz Sauckel, Hitlers Bevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, selbst erklärte. Was hieß es, Zwangsarbeiter zu sein? Am Beispiel Sindelfingen wird das deutlich.

Bild: Bei Daimler beschäftigte Ostarbeiterinnen. Den Frauen ging es schlechter, als dieses offizielle Foto zeigt. (Foto: Mercedes-Benz Classic) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Am 18. Januar 1940 kamen die ersten Zwangsarbeiter, 20 kriegsgefangene Polen, an. Sie wurden zu Holzhauerarbeiten eingesetzt und in einem Nebengebäude des Wirtshauses Hirsch untergebracht. In den folgenden fünf Jahren erhöhte sich ihre Zahl auf 3422 Menschen, überwiegend aus der Sowjetunion (1154) und aus Frankreich (1142): In Sindelfingen lag der Ausländeranteil plötzlich bei 29 Prozent.

Die meisten von ihnen – insgesamt 2841 – waren bei Daimler beschäftigt. Die Firma war einer der wirklich großen Rüstungsbetriebe (sie produzierte Teile der Kampfflugzeuge Me 109, Me 110 und Me 210 sowie Heckteile der „Wunderwaffe“ V2) und hatte deshalb einen enormen Bedarf an Arbeitskräften.

Frauen ging es noch schlechter
Die Franzosen waren überwiegend unter Druck (Entzug der Lebensmittelmarken) in Frankreich angeworben, die „Ostarbeiter“ fast durchweg verschleppt worden. Zwischen beiden Gruppen gab es erheblichen Unterschied – die „Ostarbeiter“ galten als „Untermenschen“ und waren deshalb in jeder Hinsicht gegenüber den „Westarbeitern“ benachteiligt. Und den „Ostarbeiterinnen“ ging es noch schlechter als den Männern. „Die Ostarbeiter hatten viel schlechtere Verpflegung als wir. Wir Westarbeiter haben häufig Brot über den Zaun des Ostarbeiterlagers geworfen. Ihr Lager wurde wie ein Kriegsgefangenenlager bewacht, und sie durften auch keine Gastwirtschaften besuchen“, erinnerte sich Christian Clermonts 43 Jahre nach Kriegsende an die Verhältnisse in Sindelfingen. Am lächerlich kleinen Beispiel der Tabakzuteilung wird die ganze Naziideologie deutlich: „Westarbeitern“ stand die Ration einer deutschen Frau zu, Polen und Russen die Hälfte davon, Polinnen und Russinnen bekamen nichts.

Bild: Beerdigung der bei einem Luftangriff gestorbenen holländischen Zwangsarbeiter. (Foto: Mercedes-Benz Classic)

Das „Ost-West-Gefälle“ ging bis zum Tod: 53 Zwangsarbeiter sind in Sindelfingen gestorben. Von den 28 „Westarbeitern“ kamen 23 bei Bombenangriffen um, von den 25 „Ostarbeitern“ starben 23 an Krankheiten (an „Ernährungsstörung“ oder „Todesursache unbekannt“). Und von den 52 „Ostarbeiterkindern“, die in Sindelfingen geboren wurden, erlebten 19 das Kriegsende nicht. Dabei hatten es die Zwangsarbeiter bei Daimler Sindelfingen vergleichsweise besser als in vielen anderen Großbetrieben: Die Verpflegung war teilweise reichlicher als vorgeschrieben, auch die „Ostarbeiter“ durften – hart am Rande der Legalität – bei Luftangriffen den Stollen am Goldberg aufsuchen. Und viele Bürgerinnen und Bürger begegneten ihnen menschlich, teilweise unter Gefahr für sie selbst. Dennoch waren die Jahre in Sindelfingen für alle Zwangsarbeiter eine bittere und lange Zeit. Die Daimler-Benz AG hat sich 1988 zu ihrer Verantwortung bekannt und 20 Millionen DM an zuständige Organisationen gezahlt; in Untertürkheim steht heute ein Denkmal, das an die Zwangsarbeiter erinnert. Das offizielle Sindelfingen hat dieses Kapitel jahrzehntelang weggeschoben. Bis 1985 waren die Gräber verstorbener „Ostarbeiter“ auf dem Alten Friedhof in einem erbärmlichen Zustand, danach wurden zwei Sammelgräber mit Bronzeplatten eingerichtet. Und seit 1992 steht auf dem Alten Friedhof eine Gedenktafel für die Sindelfinger Zwangsarbeiter.

Bild: Gedenkstein für die Sindelfinger Zwangsarbeiter auf dem Alten Friedhof – für eine Gesamtansicht klicken Sie bitte hier

Späte Entschädigung
Heute, fast 54 Jahre nach Kriegsende, sollen die Zwangsarbeiter endlich entschädigt werden – aber die ungleiche Behandlung geht offenbar weiter: Die „Ostarbeiter“, die mehr leiden mussten, sollen zum Ausgleich weniger bekommen. Ein früherer Zwangsarbeiter in der Ukraine oder in Russland hat es im Leben zumeist schwerer gehabt als sein Kollege aus dem Westen. Warum soll er also nicht – zumindest – in gleicher Höhe entschädigt werden?
Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung und des Mercedes-Benz-Archivs in Stuttgart-Untertürkheim.

Literaturhinweis:
Schülerarbeitsgruppe am Goldberg-Gymnasium Sindelfingen, Zwangsarbeiter in Sindelfingen 1940-1945.
Sindelfingen 1989

Stadt Sindelfingen

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