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Aus der Geschichte des Daimler-Werkes Sindelfingen

Teil 3: Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit im Drittes Reich

Quelle: Sindelfinger Fundstücke - Von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Eugen Schempp, herausgegeben vom Stadtarchiv Sindelfingen, Sindelfingen 1991 [Stadtarchiv Sindelfingen Veröffentlichungen 1], S. 101 – 113

Autor: Horst Zecha

Bild: Feier im Sindelfinger Daimler-Benz-Werk anlässlich Hitlers Geburtstag 1939. (Foto: Mercedes-Benz Classic) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Die Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 bedeutete auch für das Sindelfinger Daimler-Benz-Werk den Beginn einer neuen Epoche. Als erstes bekamen die Arbeitnehmervertreter den neuen „Zeitgeist" zu spüren. Nachdem Anfang Mai die freien Gewerkschaften ausgeschaltet worden waren, gingen die Nationalsozialisten daran, auch in den einzelnen Betrieben jegliche Arbeitnehmervertretung zu zerschlagen.

Gleichschaltung im Sindelfinger Daimlerwerk
Otto Götz, der 1933 Betriebsrat im Sindelfinger Werk war, beschreibt in seinen Lebenserinnerungen, wie die „Gleichschaltung" vor sich ging:

„Im Jahr 1933 - nach dem 1. Mai - ließ der nun erster Direktor in Sindelfingen gewordene Haspel den Betriebsratsvorsitzenden Paul Müller gegen 11 Uhr zu sich rufen und erklärte ihm: „Wenn ich bis 14 Uhr die Mitteilung von Euch habe, daß ihr als Betriebs- und Arbeiterrat zurücktretet, kann ich etwas für euch tun." Um 11.30 Uhr waren wir beisammen. Paul Müller berichtete. Ich meinte dann: „Dies ist ein Angebot, das nur ein Mann wie Haspel machen kann. Er muß die Antwort bis 14 Uhr an das Oberamt weitergeben. Ich glaube, er will allen Komplikationen im Betrieb aus dem Weg gehen, einige andere sind schon verhaftet. Wenn wir ihm die Antwort geben, die er erwartet, wird er uns im Betrieb haben wollen, nicht im Gefängnis." Damit war die Entscheidung gefallen. Am anderen Morgen wusste ich, was Obiges zu bedeuten hatte. Zu Tausenden wurden Frauen und Männer, die nicht an Hitler und sein Programm glauben konnten, auf Lastwagen gestellt und zum Lager Heuberg gebracht."

Vollbeschäftigung im Sommer 1934
Mit dem 1934 erlassenen Gesetz „zur Ordnung der nationalen Arbeit" wurde das Führerprinzip auch in den Betrieben eingeführt. In den Werken wurden die „Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisationen", NSBO, als Kontroll- und Überwachungsapparate ausgebaut. Auch äußerlich änderte sich das Werksleben durch die NS-Herrschaft. An den nationalsozialistischen Feiertagen wie 1. Mai und Führers Geburtstag wurden jeweils Betriebsappelle für die ganze Belegschaft durchgeführt: Programmpunkte waren zumeist die Übertragung einer Hitler-Rede über Lautsprecher sowie die Reden örtlicher Partei- und Betriebsführer. Am 1. Mai hatte sich die Belegschaft außerdem noch geschlossen am Maiaufmarsch in der Stadt zu beteiligen.

Wirtschaftlich ging es mit dem Sindelfinger Daimler-Benz-Werk wie auch mit der gesamten deutschen Industrie steil bergauf. Da Hitler die Automobilindustrie besonders förderte, war es nicht verwunderlich, dass sich die Beschäftigungslage in Sindelfingen besonders schnell und nachhaltig besserte Die Belegschaft des Werkes wuchs von etwa 1500 Beschäftigten bis Ende 1939 auf über 6000 Arbeiter und Angestellte. Schon sehr früh - seit Sommer 1934 -herrschte in Sindelfingen wieder Vollbeschäftigung.

Neben der Produktion eigener, in den 30er Jahren sehr erfolgreicher Personenwagen war das Sindelfinger Werk aber auch maßgeblich an der Entwicklung von Hitlers Prestige-Projekt, dem Volkswagen, beteiligt. Hier in Sindelfingen wurden 1936 die ersten 30 Karosserie-Prototypen des KdF1*-Wagens gebaut, und so ist es nicht ganz übertrieben, Sindelfingen als einen Geburtsort des legendären Käfers zu bezeichnen. Die deutsche Hochkonjunktur der späten 30er Jahre war zu einem großen Teil auf eine Besserung der weltwirtschaftlichen Lage, auf eine unverantwortliche Schuldenpolitik der Regierung und auf die gigantische Rüstungsproduktion zurückzuführen, die Hitler in systematischer Vorbereitung eines kommenden Krieges immer stärker vorantrieb. Dass die Daimler-Benz AG intensiv in das Aufrüstungsprogramm miteinbezogen wurde, ist kaum verwunderlich. Eine im Jahr 1944 angefertigte Chronik über das Werk Sindelfingen in den Kriegsjahren gibt eine detaillierte Beschreibung über das Verhältnis des Sindelfinger Betriebes und seiner Funktionäre zur NSDAP und zum NS-Staat. Was der Chronist 1944 noch als positiv schildert, ..., wird heute zu einem beklemmenden Dokument über die enge Verflechtung auch des Sindelfinger Werkes mit den herrschenden Nationalsozialisten.2*

Bild: Fremdarbeiterlager „Riedmühle“ 1942. (Foto: Mercedes-Benz Classic) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Mit dem Überfall Hitlers auf Polen begann am 1.9 1939 der Zweite Weltkrieg, und nun vollzog sich auch die endgültige und vollständige Umstellung des Sindelfinger Werkes auf die Rüstungsproduktion. Aus einem Schreiben vom Juli 1944 geht hervor, dass etwa 25 % der Fertigung für das Heer und 75 % für die Luftwaffe erfolgten. Spätestens seit September 1938 wurden Teile von Heeresfahrzeugen produziert. Die Produktion für die Luftwaffe begann erst nach 1939. Hergestellt wurden Tragflächen sowie Motor- und Rumpfteile für verschiedene Kampfflugzeuge. Gegen Ende des Krieges übernahm Sindelfingen auch noch die Produktion der Heckteile der V2-Rakete, die in den letzten Kriegsmonaten beim Beschuss englischer Städte zum Einsatz kam und von der NS-Propaganda als eine der Wunderwaffen hochgespielt wurde, die im letzten Augenblick die Wende des Krieges bringen sollten.

Dass das Sindelfinger Werk in den Kriegsjahren zunehmend an Bedeutung gewann, macht ein Blick auf die Umsatzzahlen deutlich. Der Umsatz des gesamten Werkes stieg von 1,4 Millionen RM im Jahr 1938 auf 47,8 Millionen im Jahr 1944, also um fast 3500 %. Der Umsatz des gesamten Daimler-Benz-Konzerns erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 462 auf 954 Millionen RM. Diese immense Umsatzsteigerung ließ sich natürlich nur durch eine ebenso immense Produktionssteigerung erzielen Mit den mit zunehmender Kriegsdauer immer knapper werdenden deutschen Arbeitskräften war diese Produktionssteigerung nicht zu erreichen, und so ist auch im Werk Sindelfingen die Rüstungsproduktion untrennbar mit dem Thema „Fremdarbeiter" verbunden.

33 Prozent Zwangsarbeiter
... 1941 trafen die ersten „Fremdarbeiter“ im Werk Sindelfingen ein. 1942 begann dann der Ausländereinsatz im großen Stil. Aus den in der Nachkriegszeit rekonstruierten Fremdarbeiterlisten, ..., geht hervor, dass im Werk Sindelfingen während des Krieges insgesamt etwa 2500 Fremdarbeiter arbeiteten. Am stärksten vertreten waren Sowjetrussen, Franzosen und Holländer. Der Fremdarbeiteranteil an der Gesamtbelegschaft lag 1944 bei ca. 33%.

Die Unterbringung der vielen Arbeiter stellte die Firmenleitung natürlich vor große Schwierigkeiten. 1941 wurde ein erstes Barackenlager am Daimlerweg errichtet, 1942 folgte der Bau weiterer Lager auf dem Werksgelände. Für die Behandlung, Bezahlung und Verpflegung von Zwangsarbeitern gab es reichsweit einheitliche Bestimmungen, in denen sich der nationalsozialistische Rassenwahn widerspiegelt. So wurden die Zivilarbeiter aus Frankreich, Holland und Belgien noch am besten bezahlt und verpflegt. Sie erhielten im allgemeinen auch Gelegenheit, ihre Lager zu bestimmten Zeiten zu verlassen. Der persönliche Umgang mit ihnen war der Bevölkerung allerdings bei strengsten Strafen verboten.

Wesentlich schlechter gestellt waren die sog. „Ostarbeiter“, die ja von den Nationalsozialisten als rassisch minderwertig angesehen wurden. Die Nahrungsmittelrationen waren für Ostarbeiter dermaßen gering, dass diese damit praktisch nicht überleben, geschweige denn schwere körperliche Arbeit leisten konnten. So waren die einzelnen Betriebe gezwungen, den sowjetischen Arbeitern und Arbeiterinnen, auf deren Arbeitskraft sie ja zur Erfüllung der ihnen gegebenen Rüstungsaufträge zwingend angewiesen waren, zusätzliche Verpflegung zukommen zu lassen. Für russische Frauen waren die Bedingungen nochmals schlechter als für Männer. Auch ein Blick auf die Todesursachen der in Sindelfingen verstorbenen Zwangsarbeiter belegt die verheerenden Lebensumstände der Frauen, Männer und Kinder aus der Sowjetunion. Nach einer Liste, die allerdings erst nach dem Kriegsende erstellt wurde, kamen in Sindelfingen 54 Fremdarbeiter ums Leben, davon 27 Westarbeiter und 25 Sowjetrussen. Von den Westarbeitern wurden 23 bei Fliegerangriffen getötet, 4 starben an Krankheiten. Von den 25 Russen starben dagegen nur 2 bei Fliegerangriffen, aber 18 an Krankheiten wie Lungenentzündung und Tuberkulose oder an „chronischen Ernährungsstörungen". Auf dem alten Sindelfinger Friedhof erinnern heute noch Sammelgräber an dieses wohl dunkelste Kapitel der Werksgeschichte. ... Soweit sich die realen Verhältnisse heute noch rekonstruieren lassen, war die Behandlung der Zwangsarbeiter im Sindelfinger Daimler-Benz Werk sogar noch relativ gut.

Bild: Zerstörtes Gebäude des Daimler-Werks nach dem Bombenangriff von 1944 - für eine Gesamtaufnahme des zerstörten Werks klicken Sie bitte in das Bild

Hauptangriffsziel alliierter Luftangriffe
Dass das Sindelfinger Werk wegen seiner Rüstungsproduktion im Kriegsfall zu einem Hauptangriffsziel der Alliierten werden würde, war klar, und mit der zunehmenden Luftüberlegenheit der Alliierten war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch das Sindelfinger Werk bombardiert werden würde. Die ersten Angriffe im Herbst 1943 führten zur weitgehenden Zerstörung eines der Fremdarbeiterlager, die Schäden im Werk selbst waren dagegen eher gering. Zu dieser Zeit existierte bereits für sämtliche Rüstungsbetriebe die Anweisung, Materialien und Maschinen, die für die Rüstungsproduktion wichtig und möglicherweise sogar unersetzlich waren, aus dem Werk auszulagern. ... Die ausgelagerten Materialien, Maschinen oder auch komplette Abteilungen wurden sowohl in Lager- und Fabrikgebäuden Sindelfingens oder der benachbarten Ortschaften, als auch in unterirdischen Fertigungsstätten wie Eisenbahntunnels oder eigens gebauten Stollensystemen untergebracht.

Wie weit die Auslagerungen aus Sindelfingen bereits fortgeschritten waren, als Werk und Stadt im September 1944 zum Ziel massiver Luftangriffe wurden, ist nicht mehr im einzelnen zu rekonstruieren. Bei den zwei schweren Angriffen innerhalb von drei Tagen entstanden sowohl in der Stadt als auch im Werk verheerende Schäden. ... Insgesamt fanden 56 Menschen bei Luftangriffen, die dem Sindelfinger Daimler-Benz-Werk galten, den Tod. Nach den schweren Zerstörungen vom September 1944 wurde die Produktion in Sindelfingen bis Kriegsende nur noch in sehr begrenztem Umfang wieder aufgenommen. Auch die Alliierten hatten das Werk wegen weitgehender Zerstörung aus ihrer Angriffsliste gestrichen. ...

1

Die am 27. November 1933 gegründete Organisation „Kraft durch Freude“ war der Deutschen Arbeitsfront (DAF) untergeordnet und zuständig für die Freizeitgestaltung der deutschen Bevölkerung. Die KdF-Gemeinschaft galt als die massenwirksamste und populärste Organisation des NS-Regimes, da sie ein breites Erholungs- und Unterhaltungsprogramm anbot, das vor allem für die Arbeiterschaft bis dahin unerschwinglich gewesen war.

2

„Der Betriebsführer und viele der leitenden Männer des Werkes sind in den selbstverantwortlichen Organen der Industrie des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion und in führenden Parteiämtern tätig. Damit ist die Gewähr gegeben, daß der Kontakt zwischen oberster Führung, Leitung des Betriebes und der Gefolgschaft in jeder Beziehung sichergestellt ist. Wie auf dem betrieblichen, verhält es sich auch auf dem politischen Gebiet. Missverständnisse und Unstimmigkeiten zwischen Betrieb und Partei werden dadurch, dass ein großer Teil Werksangehöriger als politische Leiter und Führer der Gliederungen der Partei aktiv tätig sind, von vornherein vermieden. Zum Beispiel ist der Betriebsobmann des Werkes zugleich Ortsgruppenleiter der Stadt Sindelfingen."

Der Text wurde gekürzt.

Mir freundlicher Genehmigung des Autors.

Für die Abbildungsgenehmigung der Fotos bedanken wir uns beim Mercedes-Benz-Archiv in Stuttgart-Untertürkheim.

Der Autor, Horst Zecha, ist Historiker und Kulturamtsleiter der Stadt Sindelfingen.

Aus der Geschichte des Daimler-Werkes Sindelfingen
Teil 1: Von der Werksgründung bis zum Ende des 1. Weltkriegs (1915-1918)
Teil 2: Von der November-Revolution bis zum Ende der Weimarer Republik (1918-1933)
Teil 4: Neubeginn nach 1945 (1945-1991)


Eine ungekürzte Text-Version des Aufsatzes von Horst Zecha können Sie hier als pdf-Datei herunterladen.

Quellen- und Literaturangaben

Stadt Sindelfingen
Daimler AG
Mercedes-Benz-Museum Stuttgart

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