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„Durch Leiden zur Herrlichkeit“

Immanuel Gottlieb Kolb und der Dagersheimer Pietismus

Quelle: „Durch Leiden zur Herrlichkeit“ - Immanuel Gottlieb Kolb und der Dagersheimer Pietismus. In: Dagersheim – Vom Frühmittelalter zur Gegenwart, Böblingen 1998. (Gemeinde im Wandel, Band 6. Eine Schriftenreihe des Instituts für Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen, hrsg. von Sönke Lorenz und Andreas Schmauder), S. 91 – 98

Autor: Dr. Günter Scholz

Bild: Immanuel Gottlob Kolb (1784-1859). Der Dagersheimer Schulmeister prägte neben Michael Hahn die pietistische Bewegung im Böblinger Raum. (Bild: Stadtarchiv Böblingen - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

... Der Verfasser der Oberamtsbeschreibung von 1850 ... glaubte mit Blick auf Glaube und Frömmigkeit [der Dagersheimer] zu beobachten: „Die im allgemeinen nicht unbemittelten Einwohner sind fleißig, sparsam und haben viel Sinn für Religion, der aber nicht selten in eine überspannte Stimmung ausartet." Dabei spielte er - ohne tieferes inneres Verständnis - auf die pietistische Bewegung an, die für Dagersheim durch das Wirken von Immanuel Gottlieb Kolb und seiner Mitbrüder prägend wurde. Dagersheim wurde damals zu einem Zentrum des Pietismus im Böblinger Raum - und ist es mit der Hahn'schen Gemeinschaft und der Süddeutschen Gemeinschaft bis heute geblieben. ...

Kolbs Herkunft und Anfänge
Wegbereiter für die pietistische Bewegung, die sich in Dagersheim in dem von der Amtskirche gesetzten Rahmen bewegte, wurde Immanuel Gottlieb Kolb. Er wurde am 28. Dezember 1784 in Schönaich geboren und entstammte einer alteingesessenen Dagersheimer Schulmeisterfamilie, die bereits in der vierten Generation in Dagersheim tätig war. ...
Im Kreise von acht Geschwistern durchlebte der junge Immanuel Gottlieb eine entbehrungsreiche Jugend - die Mutter habe den hungrigen Kindern die Kartoffeln einzeln vorzählen müssen. Nach einer abgebrochenen Bäckerlehre entschied sich Kolb für den Lehrerberuf des Vaters. Als Provisor (Schulgehilfe) trat er seine erste Stelle im Winter 1800/1801 in Mähringen bei Tübingen an. ... Nach kurzen beruflichen Zwischenstationen als Schulgehilfe in Öschelbronn, Dagersheim (bei seinem Onkel Jakob Walter) und Denkendorf wurde Kolb 1807 Schulmeister in Dagersheim. Beim Einzug in den Heimat- und Wirkungsort seiner Vorfahren gingen ihm die Dagersheimer entgegen, und die Schuljugend übergab ihm ein bekränztes Schaf. Fortan stellte sich Kolb unermüdlich in den Dienst der Gemeinde Dagersheim. ...
Schule, Stunde und Kirche - dies waren die drei sich gegenseitig durchdringenden Lebens- und Wirkungsbereiche Kolbs.

Die Erzieherpersönlichkeit
Zum einen war Kolb eine Lehrer- und Erzieherpersönlichkeit von außerordentlichem Zuschnitt. ... Zugleich verbreite er auch „religiöse und moralische Bildung". ... Kinder betrachtete Kolb als Gottesgeschenk - als „eine Gnade vom Herrn". Ihre Erziehung hatte für ihn höchsten Stellenwert. ...

Der Lehrerberuf bestand für Kolb nicht nur in Wissensvermittlung, sondern vor allem in Erziehung und Persönlichkeitsbildung - im Bemühen um sittliche und moralische Verbesserung: „Ziehet den alten Menschen ganz aus - und ziehet den neuen an", forderte er die Zuhörer in seinen Erbauungsstunden auf. Der alte Mensch war für ihn der in Hochmut, Lüge und Laster verstrickte, auf das Diesseits orientierte Mensch; der neue, der auf Gott ausgerichtete Mensch. ... Neben der Schule betonte er besonders die Rolle der Eltern für die Kindererziehung; sie sollten von Geburt an auf ihre Kinder achten und ihre guten und schlechten Neigungen beobachten. Ein großer Teil der Schuld liege bei den Eltern, „wenn ihre Kinder verloren gehen."... Lernen und Erziehen war für Kolb nicht nur auf Kinder und Jugendliche beschränkt. Vielmehr war für ihn das ganze Leben ein unablässiges Lernen. ...

Der Stundenvater
Kolbs Pädagogik stand im Dienst seines theologischen Anliegens. Schon früh hatte er ein Ungenügen mit der etablierten evangelischen Kirche empfunden, die sein gesteigertes religiöses Verlangen nicht befriedigen konnte. In Denkendorf und in Dagersheim schloss er sich pietistischen Gemeinschaften an.

Die Berechtigung zu religiöser Erbauung in Gemeinschaften sah er darin, dass „das Christentum keine Einsiedelei, sondern eine Gemeinschaftssache" sei. „Der Gemeinschaftssegen" - so fuhr er fort - „ist ein besonderer, weil unter einer lebendigen Gemeinde betende Hörer sind. Und um ihrer willen teilt sich der heilige Geist auf eine besondere Weise mit; denn der Heiland sagt: Wo Zwei oder Drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen".

Im Mittelpunkt des geistlichen Strebens von Kolb stand die „Bekehrung", d.h. die mit Aufgabe des Irdischen verbundene Hinwendung des Menschen zu Gott. Die Bekehrung verstand Kolb als einen sich über das ganze Leben hinziehenden Vorgang. ... Auf dem Weg zu Gott sei der Mensch unablässig Leiden, Anfechtungen und Züchtigungen ausgesetzt. „Durch Leiden zur Herrlichkeit", formulierte Kolb bündig. Er war überzeugt: „Je mehr die Reise durch das Erdenleben mit Leiden, Trübsalen und viel Tausend Arten von Ungemach durchwoben ist, desto gesegneter, freudenvoller und erfolgreicher wird der Übergang aus dem Tod in das Leben, aus dieser Welt in den Himmel sein."

Bild: Das berühmt gewordene Bild „vom breiten und vom schmalen Weg“ spiegelt anschaulich das pietistische Selbstverständnis des späten 19. Jahrhunderts wieder. Es entstand um 1860 auf Anregung der Stuttgarter Kaufmannsfrau Charlotte Reihlen. Die Stationen am schmalen Weg - Sonntagsschule, Knaben-Rettungsanstalt oder Diakonissenhaus – propagieren ein in den christlichen Glauben eingebettetes, asketisches Leben von der Taufe bis ins Jenseits, getreu dem Motto: „Von allen Dingen lass ab, die nicht mitgehen bis ins Grab.“ Die Stationen am breiten Weg dagegen – Spielhölle, Maskenball und Theater – warnen vor Alkohol und Krieg und stehen für ein sinnentleertes, oberflächliches Leben. (Foto: StadtA Böblingen) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern

Das Erdenleben als Reise - Der breite und der schmale Weg
Kolb fragte: „Was ist nun unser ganzes Leben von Kindesbeinen an anders, als eine Reise nach der Ewigkeit. Wir alle sind also Reisende. Der Eine hat eine kürzere, der Andere eine längere Zeit zum Reisen." Dabei gebe es zwei Wege:

„Einige wählen von den zwei Wegen, die dahin gehen, den zur Rechten, den schmalen; Andere wählen den zur Linken, den breiten. Wer den zur Rechten, den schmalen Weg geht, hat die wenigsten Mitreisenden und einen dornichten Weg... Dieser Weg ist... dem bloß natürlichen Menschen gänzlich unbekannt; deswegen muß er einen Führer und Wegweiser haben. Gott, der König und Herr dieses Landes, gibt ihm selbst einen solchen Führer... O, ein herrlicher Wegweiser zum himmlischen Vaterland, der so richtig, so gewiß und sicher dazu führt." Das Bild vom „breiten und schmalen Weg" (nach Matth. 7, Vers 13 und 14) hing noch im 20. Jahrhundert in zahlreichen schwäbischen Bürgerhäusern.

Voraussetzung für die Bekehrung bildete für Kolb die Ablegung „weltlicher Lüste." Dazu zählte „alles, was in der Welt ist, Fleischeslust, Augenlust und hoffährtiges Wesen." An die Nichtigkeit des Irdischen erinnert auch der Text des der deutschen Barocklyrik verwandten Kolbverses: „Kurz ist die Zeit und lang die lange Ewigkeit -sieh auf das Ziel und laß der Welt ihr Narrenspiel." Weltliche Lustbarkeiten wie Theater und Tanz lehnte Kolb ab - und übte so, gemeinsam mit anderen Vertretern des Pietismus, nachhaltigen Einfluss auf die Denkhaltungen und Lebensweisen der Menschen des Böblinger Raumes aus.

Sein Verständnis von der Notwendigkeit der inneren Läuterung des Menschen führte bei Kolb zur Skepsis gegenüber der Auswanderungsbewegung seiner Zeit. ...

Kolb teilte außerdem die lebhafte Endzeiterwartung anderer pietistischer Geister, wie Johann Albrecht Bengel. „Woran kann man merken, dass viele Widerchristen worden sind, und also die letzte Stunde ist“ - fragte er drei Jahre vor der Revolution von 1848 - und fand die Antwort: „1. Im Politischen wird die Uneinigkeit immer größer und der Geist der Einigkeit weicht immer mehr. 2. Im Religiösen wird die Verwirrung immer größer... 3. Auch in der Natur wird die Unordnung immer größer. Es mehren sich Erdbeben, Hagel, Ungewitter, Mißwachs, Seuchen usw." Ebenso waren ihm die Teuerungen und die wirtschaftliche Not seines Zeitalters Indizien für die Endzeit. Ganz im Sinn von Speners „Praxis pietatis" rief Kolb zu tätiger Nächstenliebe auf. ... Eine Fortsetzung fand Kolbs Lebenswerk des gelebten und tätigen Christentums in seinem Neffen Christian Kolb (1810-1894), der 1846 Hausvater und Lehrer des Basler Missionshauses wurde.

„Brot, Arbeit und Kreuz"
Kolb predigte Selbstgenügsamkeit und Sparsamkeit. Der Mensch solle Rechenschaft geben über jeden Kreuzer, den er unnötig ausgegeben habe. Kritik übte er in diesem Zusammenhang auch an seinen pietistischen Mitbrüdern: „Es ist eine böse Art bei den heutigen Pietisten, dass sie so viel Weltförmiges annehmen, statt Armut, Schmach, Verachtung und Niedrigkeiten zu suchen. Bei hölzernen Schüsseln, hölzernen Tellern und hölzernen Löffeln wäre mir am wohlsten." Zum Erdenleben benötige der Mensch sein „Kreuz": Der Christ brauche „nur Nahrung und Kleidung, Arbeit und Kreuz; hat er diese drei Dinge, so soll er zufrieden sein. Hast du kein Kreuz, so suche einen anderen Platz, wo du Kreuz findest."...

Bild: Das Grab Kolbs auf dem Dagersheimer Friedhof. Zur Beerdigung 1859 kamen 2000 Trauergäste.

Die Nachwirkungen
Aus nah und fern zog es damals Menschen nach Dagersheim, die bei Kolb Stärkung im Glauben, Zuspruch im Leid, aber auch Rat in praktischen Dingen suchten. Wie Kolbs Selbstzeugnisse ausweisen, gewährte er dies in reichem Maß und schonte für die Bewirtung seiner Gäste keineswegs sein schmales Schulmeistergehalt. Kolb hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Dagersheimer Mitbrüdern, ... er stand zugleich in einem engen persönlichen und brieflichen Austausch mit anderen Vertretern des Pietismus im Böblinger Raum, besonders zu Michael Hahn. ... Als Kolb 1850 sein Schulamt niederlegte, wurde ihm von der Gemeinde Dagersheim die Ehrenbürgerwürde verliehen. Bei seiner Beisetzung am 20. Februar 1859, zu der sich mehr als 2000 Trauergäste versammelt hatten, würdigte Pfarrer Finckh sein Wirken, das als „ein goldenes Zeitalter" in der Gemeinde fortleben würde.

Kolbs Lebenswerk wurde von den Brüdern Gottlieb Ziegler (1798-1875) und Johann Georg Ziegler (1800-1872) fortgeführt. ...

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

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