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Wie die Flucht des Ehepaars Krakauer begann

Nachtasyl


Quelle: Max Krakauer: „Lichter im Dunkel – Flucht und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich“, Quell Verlag, Stuttgart 1975/1991, S. 22f.

Autor: Max Krakauer

„Frierend und elend schleppte sich meine Frau am Abend des 29. Januar 1943 von ihrer Arbeitsstelle [einem Reparaturbetrieb in Berlin, K. Ph.] nach Hause. Als sie nach der Klinke des Tores tastete, löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel der Mauern, eine zitternde Hand packte ihren Arm und eine Stimme flüsterte: "Die Gestapo ist in der Wohnung. Machen Sie schnell, daß Sie wegkommen! Weg! Schnell!"

Eine christliche Bekannte hatte auf meine Frau gewartet, um sie zu warnen. Alle in unserer Wohnung Anwesenden – es waren außer uns noch neun Menschen, darunter allerdings zwei, die für den Abtransport noch nicht in Frage kamen, da sie in Mischehe lebten - sollten evakuiert werden, auch die einzige noch lebende verwitwete Schwester meiner Frau. Halb bewußtlos vor Schreck und Angst wankte diese in die Dunkelheit davon. Was war mit mir? Am Morgen hatten wir verabredet, daß ich nach Arbeitsschluß zum Arzt gehen wollte. Was nun, wenn im das aus irgendeinem Grunde nicht getan hatte, wenn ich ebenfalls auf dem Heimweg war, wenn sie mich jetzt verfehlte und ich dem Verhaftungskommando direkt in die Hände liefe, wenn ich abtransportiert würde und sie allein bleiben müßte?

Ein kleines bißchen Glück war uns hold, sie traf mich noch in der Sprechstunde des Arztes an. Diesem Zugriff waren wir beide entgangen, aber nach Hause zurückkehren konnten wir nicht. So beschlossen wir, wenn möglich wenigstens die kommende Nacht bei irgendeinem Bekannten zuzubringen und gingen zu einer uns befreundeten Dame, deren Mann wegen eines geringfügigen Vergehens bereits seit langer Zeit im Gefängnis saß und die ihrerseits bei einem in Mischehe lebenden Ehepaar wohnte. Es bedurfte einer langen Verhandlung, ehe wir die Erlaubnis bekamen, im Zimmer unserer Freundin gemeinsam auf einem Sofa zu übernachten. Wir wußten dabei wohl, was wir verlangten, denn die Gefahr, in die wir die ganze Familie brachten, war groß: auch die Wohnungen solcher in sogenannter Mischehe lebenden Juden wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Gestapo kontrolliert. Obwohl es für Juden verboten war, nach 20 Uhr - und im Sommer nach 21 Uhr - die Straße zu betreten, wagte ich es, noch einmal zum Kurfürstendamm zu schleichen, um nach unserer Wohnung zu sehen. Alles war hell erleuchtet. Da lauerten sie also, die Häscher, daß wir zurückkommen sollten! Und, wie ich später erfuhr, haben sie bis in die frühen Morgenstunden auf unsere Rückkehr gewartet.

Lange bevor der Tag graute, verließen wir unser Quartier, da wir fühlten, daß man sich durch unsere Anwesenheit in höchster Gefahr glaubte und uns nicht länger in der Wohnung haben wollte. Wieder standen wir auf der dunklen Straße. Wohin jetzt? Ursprünglich hatte ich die Absicht gehabt, nur diese eine Nacht der Wohnung fernzubleiben und am nächsten Tage wieder zur Arbeit zu gehen, als sei nichts geschehen - in der vagen Hoffnung, daß die Gestapo sich dann vielleicht nicht mehr um uns kümmern werde. Doch dieser Weg war uns verschlossen, unsere Wohnung war inzwischen von der Gestapo versiegelt. Hatte das, was wir taten, überhaupt einen Sinn? Woher hatten wir, zwei flüchtige Juden, im Herzen des Dritten Reiches denn Hilfe zu erwarten? War es nicht eine unsinnige Idee, den Häschern Himmlers entgehen zu wollen? War es nicht das beste, sich freiwillig bei der Gestapo zu melden? Verwirrt und unentschlossen suchten wir einen meiner früheren Arbeitskollegen auf, der inzwischen von der Gestapo als Ordner beim Abtransport der Juden eingestellt war...“

Mit freundlicher Genehmigung von „Verlag und Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft“ in Stuttgart.

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