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Das jüdische Ehepaar Krakauer auf der Flucht durch den Kreis Böblingen

"Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt!" (Jüdisches Sprichwort)


Quelle: Max Krakauer: „Lichter im Dunkel – Flucht und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich“, Quell Verlag, Stuttgart 1975/1991

Autor: Max Krakauer

„... Da es der Hausfrau gelang, alles Notwendige herbeizuschaffen, brachte sie mich so weit, dass ich unsere Koffer zur vorgesehenen Zeit wieder aufnehmen und wir uns auf den Weg machen konnten, teils zu Fuß, teils mit der Straßenbahn, nach Gebersheim zu Frau Pfarrer G. In ihr trat uns eine dritte Spielart von barmherzigen Samaritern entgegen, die wir auf unserer Wanderschaft kennen lernten, die junge, allein stehende Pfarrersfrau, deren Mann im Felde, in Gefangenschaft, vermißt oder gar bereits gefallen war. Sie gehörte einem Jahrgang an, der 1933 noch die Schule besucht hatte, Juden aus eigenem Erleben also gar nicht mehr kannte, nur wenig von ihnen wissen konnte und die dennoch trotz der Propaganda aller Partei- und Staatsstellen nicht von diesen Gedanken des Hasses infiziert war. Mehr als einmal wurde uns freimütig erklärt, daß der Entschluß, uns aufzunehmen, auf das Vorbild dieser tapferen jungen Frauen zurückging.

Da besucht mich eines Tages Eugen I. aus dem benachbarten Heimerdingen und erklärte kurz und bestimmt, er habe soeben mit seinem Freund Sch. in Gebersheim gesprochen, Bauer und Ortsbauernführer, und ihm mitgeteilt, daß er zu unserer Verpflegung beizusteuern habe. Der tat dies prompt und in so reichem Maße, daß Frau G. ihre Gastfreundschaft wesentlich erleichtert wurde. Der Ort erwies sich mit der Zeit als nicht besonders mißtrauisch, so daß wir es wenigstens riskieren konnten, nach dem benachbarten Leonberg zu wandern und im Walde Tannenzapfen für den Winter zu sammeln.

Verabredungsgemäß sollten wir im Anschluß daran aus der Leonberger Gegend eine Zeitlang verschwinden. Doch Pfarrer M. erschien in Gebersheim und brachte uns die freudige Nachricht, daß wir nun doch für eine Weile zur Familie I. nach Heimerdingen gehen könnten. Von Woche zu Woche wurde es schwerer, Unterkunft für uns zu finden, weil eine Stadt nach der anderen, große und kleine, durch die Luftangriffe in Schutt und Asche sank und Hunderttausende in die Dörfer evakuiert wurden...

Eigentlich sollten wir in Nufringen nur einen Tag Station machen, aber man brachte es doch nicht übers Herz, uns bei dem schlechten Wetter, es taute immer mehr, gleich weiterziehen zu lassen, und so blieben wir fünf Tage. Es war Februar geworden, und die Kämpfe spielten sich zum Teil schon auf deutschem Boden ab. Mit der Angst und der Verwirrung der Behörden steigerte sich zugleich ihre Wut, ihr Druck und die Schärfe ihrer Kontrollmaßnahmen. Das Ende des Systems zeichnete sich jetzt auch für den Borniertesten deutlich sichtbar ab, nur die Himmlersche Polizei und die Goebbelsche Propaganda liefen noch auf vollen Touren, um das nun doch langsam, wenn auch zu spät "erwachende" deutsche Volk an der Kette zu halten. Einesteils wurde die Bereitwilligkeit, uns und unseren Schicksalsgenossen zu helfen, dadurch größer, ebenso aber die Angst, noch in letzter Stunde entdeckt und vernichtet zu werden. So wurden wir und alle Beteiligten immer wilder hin und her gerissen, von Hoffnungsfreude, Unsicherheit und Grauen, wir könnten zugrunde gehen mit dem Ziel vor Augen. Auf Nufringen folgte Kayh. Eine ganz junge Pfarrfrau K. nahm uns auf. Sie hatte keine Ahnung, daß wir im November des vergangenen Jahres bei ihrem Schwiegervater in Metzingen gewesen waren, und dieses Bewußtsein erleichterte ihr die Tat, zu der sie sich freiwillig entschlossen hatte, ohne genau sagen zu können, wie ihr im Felde stehender Mann sich dazu stellen würde; denn sie trug die Verantwortung für vier kleine Kinder. Die zwei Wochen in Kayh vergingen schnell und angenehm, da wir wußten, daß wir von da aus nach Kuppingen zu Pfarrer E. konnten. Das nächste Quartier bereits im voraus zu kennen, war nicht nur eine große Beruhigung für uns, sondern auch eine Ruhepause für diejenigen, die für uns suchten.

Kuppingen hat keine Bahnstation. Damit wir auch sicher dorthin gelangten, schickte das Pfarrhaus seinen Ältesten, einen 15 Jahre alten Jungen, voraus und ließ uns holen. Anfangs war man etwas ängstlich, wie unsere Anwesenheit wohl verlaufen würde, aber es muß besser gegangen sein als erwartet, denn aus den vorgesehenen zwei Wochen wurden vier. Man nahm uns wie üblich als Besuch auf, und wir traten auch nach außen hin als solcher in Erscheinung. Die Gemeindeschwester des Ortes, die über uns Bescheid wußte, sagte mir einmal, wenn man aus Kuppingen fünf Leute entfernen könnte, dann sei dort vom ganzen Nazitum nichts mehr da. Aber diese fünf Leute terrorisierten das ganze Dorf. Auch der Bauer und Kirchenpfleger Be. wußte, wer wir waren, und mancher Bissen, den wir in Kuppingen verzehrten, kam aus seinem Hause. Kleinigkeiten nur, kleine, anscheinend unwichtige Ereignisse am Rand unseres Weges, aber sie ließen uns erkennen, dass die Kreise, die sich durch ihre Taten gegen die Befehle des Diktators stellten, größer waren, als wir geahnt hatten. Vier Wochen Asyl waren ein göttliches Geschenk in der zunehmenden Verwirrung dieser Tage. Sie verflossen für mich umso schneller, als ich mit interessanten Kirchenbucharbeiten beschäftigt war. Der Ort verhielt sich still.

SIE KOMMEN
Eine Zusammenkunft bei Pfarrer D. in Cannstatt wurde anberaumt, zu der ein ganzer Kreis unserer Beschützer erschien. Man beschloß, unsere Route zu ändern und uns, wenn es irgend ging, wieder in der Waiblinger Gegend unterzubringen, da es im Bereich des Schwarzwaldes, dem sich die Rheinfront näherte, viel zu gefährlich geworden war. Pfarrer M. übernahm es, für uns zu suchen, und war mehrere Tage unterwegs. Auch die Nachrichtenübermittlung wurde immer schwieriger, und erst im letzten Augenblick erfuhren wir, daß wir nach Sindelfingen zu einer Eintagsstation kommen sollten. Einen Tag! Aber es waren für uns 24 gewonnene Stunden. Von da aus sollten wir im Waiblinger Dekanat erfahren, wo wir uns weiter aufhalten könnten. Fabrikant Bi. holte uns mit seinem Wagen in Kuppingen ab und brachte uns am nächsten Morgen bis zur Straßenbahnstation in Vaihingen, von wo aus wir teils fahrend, teils laufend nach Waiblingen pilgerten. Unterwegs wandten wir alle Vorsicht an, deren wir fähig waren, denn es ging ums Letzte. Die Front kam näher. Schon war die Gegend, durch die wir, eifrig nach Kontrollen Ausschau haltend, zogen, Kampfhinterland geworden, und Alarme und Luftangriffe hörten nicht mehr auf. In Kuppingen hatten wir täglich mehrere Male in den Keller stürzen müssen, und an dem einen Tage unseres Aufenthaltes in Sindelfingen erlebten wir einen schweren Angriff auf den Flugplatz in Böblingen, wobei das ganze Haus auseinanderstob, um irgendwo Schutz zu suchen, da es einen bombensicheren Keller nicht gab.

In Waiblingen angelangt, waren wir darauf gefaßt, sofort weiterziehen zu müssen, aber davon wollte das Dekanat nichts hören, und man hielt uns vorerst fest. Unser nächstes Ziel hieß Korb. Auch hier war es eine alleinstehende Pfarrfrau, die uns zu sich nahm, obwohl ihr Haus schon reichlich besetzt war. Wir mußten weiter, hinaus in das täglich wachsende Chaos. Wieder öffnete das Waiblinger Dekanat seine Türen, und wir hofften, den Einzug der Alliierten dort abwarten zu können. Man rätselte noch, ob Franzosen oder Amerikaner Waiblingen besetzen würden. Die Straßenkontrollen waren abermals verschärft worden, und Dekan Z. kam uns nach Korb entgegen. Leider verfehlten wir uns, aber wir schlüpften alleine durch alle Sperren bis Waiblingen durch. So blieben wir noch einen Tag, und noch einen, immer im Glauben, daß es nur noch Stunden dauern könne. Doch die Befreiung ließ auf sich warten. Im Frühjahr ist es in einem Stadthaushalt besonders schwer, mit den Lebensmittelzuteilungen auszukommen, und im Dekanat gab es nur drei Karten. Die Post setzte aus, und Hilfe von Pfarrer D. oder M. kam nicht mehr heran. Da erschien eine sehr junge Dame im Dekanat, die uns als Frau Pfarrer Sp. aus Stetten vorgestellt wurde. Als Dekan Z. ihr erzählte, daß wir in diesen kritischen Tagen gerne zusammen bleiben wollten, erklärte sie sich bereit, nicht nur meine Frau, sondern uns beide bei sich aufzunehmen - für eine Woche. Eine Woche, nicht nur einen Tag! Bis dahin würde sich alles entscheiden. Wenn es uns gelang, diese acht Tage zu überstehen, waren wir gerettet. Solch fester Hilfsbereitschaft vieler Menschen verdanken wir unser Leben.

Die Telefonverbindung mit Waiblingen war noch intakt. Am Morgen des 21. April gab das Dekanat Nachricht, daß wir am 23. in Rudersberg erwartet würden. Doch kurz darauf ein zweiter Anruf aus dem nahen Nachbarort: Teile der amerikanischen Armee eingetroffen! Unsere Ungeduld erreichte den Siedepunkt. Wenn jetzt nicht noch ein ganz ungeheuerlicher Zufall eintrat, dann war der Tag unserer Befreiung, unserer Rettung gekommen.

Es wurde 16 Uhr, und wir saßen am Kaffeetisch, als von der Straße ein Ruf ins Zimmer drang: "Amerikanische Tanks!" Mit wilden Sprüngen stürzte ich ins Freie, während die Frauen mit ein paar Nachbarn in den Pfarrhauskeller gingen. Langsam kamen drei amerikanische Soldaten die Straße herauf, nach allen Seiten scharf beobachtend, gefolgt von einem Jeep, auf dem fünf Mann saßen. Dann schoben sich einige Panzerwagen um die Ecke und bauten sich an der Kirche auf. "Sie sind da'", rief ich meiner Frau zu und konnte nur mit Gewalt meine Erregung bändigen. Mit ihr kamen auch die anderen aus dem Keller. Eine größere Anzahl Soldaten in Gefechtsformation zog jetzt vorbei. Die gesamte Bevölkerung erschien vor den Häusern. Ich hielt meine Frau am Arm, die Finger krampften sich in das Tuch ihres Mantels. Am liebsten hätten wir laut aufgeschrien. Doch noch immer mußten wir schweigen, durften nicht auffallen und uns nichts merken lassen. Denn wenn aus irgendwelchen Gründen der Ort wieder hätte geräumt werden müssen, wir wären verloren gewesen und das Pfarrhaus mit uns. Meine Frau sah mich an und ich sie, unfähig, ein Wort zu sprechen. Aber unsere Gesichter sagten mehr als alle Worte: Wir würden unser Kind wiedersehen!“

Wir danken „Verlag und Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft“ in Stuttgart für das Abdruckrecht.

Im Buch des Quell Verlags und in Zeitungsartikeln sind die hinter den Abkürzungen steckenden Namen veröffentlicht worden:

Frau Pfarrer G. = Frau Pfarrer Goes
Eugen I. = Eugen Immendörfer
Familie Sch. = Familie Schwarz
Pfarrer M. = Pfarrer Otto Mörike
Pfarrfrau K. = Pfarrfrau Kleinknecht
Pfarrer E. = Pfarrer Eisenmann
Bauer und Kirchenpfleger Be. = Berstecher
Pfarrer D. = Pfarrer Dipper
Fabrikant Bi. = Fabrikant Martin Bitzer
Frau Pfarrer Sp. = Pfarrfrau Spieth
Dekan Z. = Dekan Zeller

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