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„Warum sind Sie denn geblieben ?“ Chronik der gescheiterten Hoffnungen


Quelle: Max Krakauer: „Lichter im Dunkel – Flucht und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich“, Quell Verlag, Stuttgart 1975/1991, S. 13f.

Autor: Max Krakauer

Es fragt sich leicht: "Warum sind Sie denn geblieben? Warum sind Sie nicht rechtzeitig gegangen?" Wieviele hätten es getan und das Letzte dafür gegeben, wenn da ein Weg gewesen wäre, der für sie gangbar war. Sie wären gerettet worden!

... Auswandern! Ich gehörte zu den ersten, die ihr Augenmerk darauf richteten. Palästina war das von mir gewählte Ziel. Doch die von den Engländern festgesetzte Einwanderungsquote war hoffnungslos. Nur eine kleine Anzahl von Zertifikaten wurde ausgegeben, und auch diese nur an bestimmte Kategorien, an Leute, die für den Aufbau des Landes als besonders wichtig galten, an Handwerker also in erster Linie und an Landwirte. Ich gehörte nicht zu ihnen. Blieb nur noch die Möglichkeit, über ein sogenanntes „Kapitalisten-Zertifikat“ hineinzukommen. Das bedeutete, dass der Bewerber mindestens tausend palästinensische Pfund sein eigen nennen musste. Der deutsche Staat aber dachte gar nicht daran, einem Auswanderer tausend Pfund mitzugeben, auch nicht nach Bezahlung der Reichsfluchtsteuer...

Ich versuchte es anders. Die Möglichkeit, ein Affidavit aus den Vereinigten Staaten zu erhalten, war gegeben. Alle Voraussetzungen, die besonders darin bestanden, daß das Affidavit "fundiert" sein, d. h. daß der geforderte hohe Betrag auch tatsächlich nachgewiesen werden mußte, waren erfüllt. Da verunglückte unser Bürge und Helfer in den Staaten am gleichen Tage schwer, da die Angelegenheit perfekt gemacht werden sollte. Als wir nach einer Verzögerung von vielen Monaten uns abermals dem Ziele nahe glaubten, war es zu spät. Ich reichte Australien ein. Es zeigte sich, daß Kaufleute für die Einwanderung in Australien nicht willkommen waren. Nur wieder Handwerker wurden gewünscht. In allen diesen Mühen und Sorgen, Verhandlungen, Fahrten und Besuchen erreichte uns plötzlich ein Telegramm einer bei Nacht und Nebel in die Tschechoslowakei entkommenen Freundin: "Bucht sofort Trinidad." Es stellte sich heraus, daß Trinidad unvermittelt für jegliche Einwanderung freigegeben war. Neues, schwer zu nehmendes Hindernis: Die Buchung war nur in Holland möglich, der Preis mußte in holländischen Gulden bezahlt werden. Abermals verstrich lange, kostbare Zeit, doch wir schafften es. Die ersten Schiffe waren bereits unterwegs, als uns die Nachricht erreichte, daß Trinidad auf einmal für Juden gesperrt wurde: Die bereits auf See Befindlichen mußten zurückkehren. Unsere Verzweiflung wuchs, und ich sah keinen anderen Weg mehr, als mich mit dem Plan einer "Schwarzauswanderung" zu befassen. Schon wiederholt hatten wir gehört, daß Schwarzauswanderungen angeboten wurden, doch sie kosteten unendliche Summen und boten nicht die geringste Gewähr für ein Gelingen. Vor allem gab es keine Sicherung dagegen, daß man Betrügern in die Hände fiel. Eines dieser Angebote schien mir jedoch noch am verläßlichsten, ein Weg, schwarz nach Belgien zu kommen. Die erste Gruppe machte sich auf die Reise, doch sie wurde an der Grenze verhaftet, und nie wieder haben wir etwas von den Beteiligten gehört. Sie waren in eine Falle der Gestapo gegangen. Solche Betrugsmanöver waren an der Tagesordnung bis Anfang 1943, zuletzt sogar unter tätiger Mithilfe von einzelnen Gestapoangehörigen, die auf diese Weise ein dreifaches Geschäft machten: Erstens erhielten sie den hohen Kaufpreis des Verzweifelten, der alles hingab, nur um der Hölle zu entweichen, dann bekamen sie von ihrer Reichsführung eine Art Prämie für jeden eingefangenen flüchtigen Juden, und zwischendurch hatten sie noch Gelegenheit, sich an der letzten mitgeführten Habe der Getäuschten zu bereichern. Noch einmal verwandte im alle meine Energie darauf, nach den USA zu kommen, bis die Schließung der amerikanischen Konsulate, lange vor Ausbruch des Krieges, diesem heißen Bemühen ein unüberwindliches Halt gebot. Ein Auswanderungsplan nach dem anderen war mir so durch widrige Verhältnisse, durch persönliches Mißgeschick und unglückliche Zufälle zerschlagen worden.

Mit freundlicher Genehmigung von „Verlag und Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft“ in Stuttgart.

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