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Quelle: Sindelfinger Zeitung, Samstag, 11. November 1989 Autor: Matthias Kensche | ||||
Kreis Böblingen. Das erste Ergebnis, seit gestern die DDR ihre Grenzen und in Berlin nach 28 Jahren die Mauer für DDR-Westreisende geöffnet hat: In Berlin brach zunächst einmal der Straßenverkehr zusammen. Alles Weitere wird man sehen müssen. Das Hinterland der Besuchs- oder Einwanderungswelle aus dem Osten, der Raum Böblingen/Sindelfingen beispielsweise, den – wenn überhaupt – die Welle erst mit zeitlicher Verzögerung und zahlenmäßiger Verdünnung trifft, hat den Vorteil, etwas besser planen zu können. So weit jedenfalls, das ergaben die gestrigen Gespräche der SZ mit Rathäusern, Landratsamt und Regierungspräsidium, wird es hier nicht kommen, dass DDR-Übersiedler bei Familien zwangseinquartiert werden müssen. Alles wird ausgeschöpft Das Regierungspräsidium, im Zweifel für die Zuteilung von Übersiedlerquoten zuständig, hat beim Landratsamt angeklopft, alle denkbaren Unterbringungsmöglichkeiten auszuloten, und das Landratsamt hat diese Anfrage an die Rathäuser und soziale Institutionen wie Kirchen, Caritas, Arbeiterwohlfahrt oder DRK weitergeleitet, wo derzeit die Möglichkeiten zügig, doch ohne Hast, ausgelotet werden. In Böblingen wartete OB Vogelgsang mit der Neuigkeit auf, er habe vor zwei Tagen per Eilentscheidung veranlasst, dass auf dem Gelände der IBM-Baracken an der Schönbuchstraße – ohne Rücksicht auf die Landesgartenschau – die Fundamente für zwei Wohnheime vorbereitet werden, die Ende Januar bezugsfertig sein könnten. Zusätzliche Behelfsunterkünfte seien zwar denkbar, doch werde es zu vermeiden sein, dass die Stadt bald von einem Kranz von Behelfsunterkünften umringt sein wird. „Es wird einiges verschoben werden müssen, auch im Haushalt, der gerade aufgestellt wird, in Richtung mehr Bau von Sozialwohnungen“. 18 Wohnungen im Talblickweg in Dagersheim, eigentlich für Sanierungsumsiedler erstellt, stünden vorübergehend wohl auch zur Verfügung. Ins AWO-Waldheim? Obwohl langfristig mit Freizeiten belegt, will der AWO-Bezirksvorstand bei seiner heutigen Beratung auch das AWO-Waldheim in die Überlegungen mit einbeziehen. Bezirks-Geschäftsführer Berthold Eilenberger ist sicher, dass in Not- oder gar Katastrophensituationen dafür Verständnis geweckt werden kann. Auch das Eichholzer Täle, selbst die Wildermuth-Kaserne, sind schon in die Überlegungen mit einbezogen worden. In Sindelfingen sind die städtischen Ämter angewiesen, verschärft nach baureifen Bauplätzen zu suchen. Außerdem, so Pressesprecher Reusch, sei ein größeres Hotel ins Auge gefasst, wofür allerdings das Land finanziell mit einspringen müsste. Beim Regierungspräsidium selbst, das im Zweifel Übersiedler zuweisen müsste, ist man eher gelassen. „Zunächst“, so Pressesprecher Karl Greißing, „versucht der Bund Übersiedler in Kasernen unterzubringen. Unabhängig von unseren Anfragen an die Landratsämter, deren Ergebnisse noch nicht alle da und ausgewertet sind, fasst das Regierungspräsidium in erster Linie die Jugendherbergen im Land ins Auge, mit denen derzeit Kontakt aufgenommen wird.“ Im Sindelfinger Wohnheim „Niederer Wasen“ waren gestern von ursprünglich 201 Übersiedlern noch 137 Plätze belegt. Dass das Belegungsrecht für Übersiedler über das Jahr hinaus bestehen bleibt, gilt beim DB-Betriebsrat wie beim Regierungspräsidium als nahezu sicher, so dass auch hier wieder Plätze für neue Übersiedler zur Verfügung stehen. Staatsbürgerliche Pflicht Für neue Übersiedler hat allerdings Böblingens – dank Sömmerda-Partnerschaft DDR-erfahrener – Oberbürgermeister Alexander Vogelgsang zunehmend weniger Verständnis: “Es besteht in der Bundesrepublik kein Interesse daran, dass die Massenflucht so wie in den letzten Wochen weitergeht“. Es sei jetzt angesichts der Umwälzungen in der DDR, die auch die Partnerstadt Sömmerda ergriffen hat, „auch eine staatsbürgerliche Pflicht der DDR-Bewohner, zu Hause zu bleiben und am Umbau ihrer Gesellschaft mitzuarbeiten.“ 52 Familien aus Sömmerda haben in den letzten Wochen ihre Wohnungen verlassen, dem Kreiskrankenhaus fehlen drei Prozent des Personals, darunter drei leitende Ärzte. In Sömmerda herrscht, wie in der ganzen DDR, Aufbruchsstimmung. Der Zeitungsstil ist offener geworden. In zwei Sitzungen, einmal eher tribunalartig, einmal mehr im konstruktiven Dialog hat sich die Stadtverordnetenversammlung der Bevölkerung eingestellt und insgesamt 1600 Sömmerdaern offen Rede und Antwort gestanden. Die Partnerschaft sieht Vogelgsang leichter, vielleicht auch ein wenig spannender werden. Am Besuchsprogramm wird seitens Böblingen unverändert festgehalten. ( ) | ||||
Der Text wurde gekürzt. Mit freundlicher Genehmigung der Sindelfinger Zeitung Weitere Pressetexte zum Übersiedleransturm: - Ausnahmezustand - Massenhafte Heimkehr? - Wir bezahlen genauso... - 10.000 Rückkehrer Diese Seite drucken |
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