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Mötzingen war ein radikalpietistisches Zentrum Zufluchtsstätte für abgeschaffte Theologen Quelle: Gäubote - Tageszeitung im Kreis Böblingen für Herrenberg und das Gäu, 12. August 2004Autor: Hans-Dieter Frauer | ||||
In der Geschichte des frühen Pietismus spielt die Gemeinde Mötzingen eine herausragende Rolle. Sie war lange geradezu ein Hort des Widerstands gegen Amtskirche und Staat. Ihr ist es mit zuzuschreiben, dass das Gäu neben dem Bereich um Calw und dem Bottwartal in Württemberg als eines der Zentren jenes separatistischen Pietismus galt, der sich von der Institution Kirche lösen wollte. Die Sonderstellung lässt sich mit der damaligen Grenzlage Mötzingens erklären: Die Gemeinde lag unmittelbar an der Landes- und Konfessionsgrenze zu Vorderösterreich1*, seine eigenständige Entwicklung wurde noch durch das höchst komplizierte Rechtsgeflecht der feudalen Zeit begünstigt. So wurde die Gemeinde etwa als Lehen an die adligen Obervögte der Amtsstadt Herrenberg verliehen; damit konnten sie auch bestimmen, wer in Mötzingen Pfarrer wurde. Im Jahre 1715 - es war die Zeit des frühen Pietismus - kaufte der Herrenberger Forstmeister Siegfried von Leinungen Schloss und Dorf Mötzingen. Er und seine Frau Amalia Hedwig waren radikal gesinnte Pietisten mit betont antikirchlicher Haltung. Durch sie wurde Mötzingen eine Hochburg des separatistischen Pietismus und blieb es fast ein Jahrhundert lang. Bis heute gibt es im Gäu viele Formen nebenkirchlicher Frömmigkeit, wie ein Blick in den samstäglichen Kirchenanzeiger des "Gäuboten" belegt. Dort wird neben den Angeboten der großen Konfessionen und der Freikirchen auch auf weitere Gruppen und Initiativen hingewiesen. In Mötzingen hatte die Kirchenleitung in Stuttgart nichts zu bestimmen; es lag außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches wie etwa auch Sindlingen, das aus eben diesem Grund 100 Jahre später der geschützte Aufenthaltsort von Michael Hahn wurde. Gegenüber Nicht-Theologen konnte die Obrigkeit harsch vorgehen wie sich am Beispiel des Gärtringer Bauern Jakob Eipperle zeigt. Auch gegenüber Theologen fackelte sie nicht lange: Wer verdächtigt wurde, pietistisch gesinnter Theologe zu sein, wurde nach Stuttgart einbestellt, verhört und je nachdem abgemahnt, gerügt oder entlassen. Die solchermaßen "abgeschafften Theologen" konnten sehen, wo sie blieben. Gemeinden wie Mötzingen boten ihnen aber die erwünschte Zufluchtsstätte, eben weil die Ortsherrschaft Theologen berief, die ihren Überzeugungen nahe standen. Daher fanden in Mötzingen lange entschieden pietistisch gesinnte Pfarrer eine neue Wirkungsstätte. Hier predigten sie nicht nur Mötzingern, sie hatten wegen ihrer Prinzipientreue auch großen Zulauf von auswärts und konnten so zum Verdruss der Kirchenleitung weiter ins Land hineinwirken. In Mötzingen selbst bildete sich, wen wundert’s, unter der fürsorglichen Hand der Herrschaft von Leinungen eine separatistische Gruppe mit Verbindungen und Beziehungen zu anderen Orten, etwa nach Hochdorf. Von Mötzingen aus schauten sich die von der Kirchenleitung entlassenen Pfarrer auch in Ruhe nach neuen Aufgaben um. Sie waren begehrte Erzieher: So sind etwa Bengel, Hölderlin und Schelling nachweisbar von Radikalpietisten geprägt worden. Die von ihnen aufgeworfenen Fragen etwa nach der "reinen Kirche" oder zur Kirchenzucht wurden nie zufriedenstellend beantwortet. Die Auseinandersetzungen zogen sich lange hin und verloren erst an Schärfe, als die Radikalpietisten im frühen 19. Jahrhundert wegen der damals weit verbreiteten Weltuntergangserwartung freiwillig ihre Heimat verließen und im Osten oder in den USA Gemeinden nach ihren eigenen religiösen Vorstellungen gründeten. Selbst von dort aus haben sie noch ungewollt gewirkt: Friedrich Engels, der mit Karl Marx den Kommunismus theoretisch begründet hat, wusste von Siedlungen in den USA mit Gütergemeinschaft. Sie dienten ihm als Beweis für seine Ideen einer klassenlosen Gesellschaft ohne Privateigentum.
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Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Gäuboten
Der Autor Hans-Dieter Frauer ist Journalist in Herrenberg, arbeitet für den Evangelischen Pressedienst Südwest und ist ein ausgewiesener Kenner der württembergischen Kirchengeschichte. Im Verlag der Liebenzeller Mission erschien sein Buch „Der breite und der schmale Weg – Pietismus in Personen“, Bad Liebenzell 2003, (ISBN 3-921113-64-4). Begleitend zur Ausstellung „Der breite und der schmale Weg – Pietismus auf Schwäbisch“, die vom 16. Juli – 3. Oktober 2004 in der Deckenpfronner Zehntscheuer zu sehen war, veröffentlichte er im „Gäuboten“ eine Serie über den „Pietismus im Gäu“. Diese Seite drucken |
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