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Der Altdorfer Johann Michael Hahn war seiner Zeit weit voraus Rückzug ins Ausland - nach Sindlingen Quelle: Gäubote - Tageszeitung im Kreis Böblingen für Herrenberg und das Gäu, 26. 8. 2004Autor: Hans-Dieter Frauer | ||||
Bild: Johann Michael Hahn (1758 – 1819) aus Altdorf. Auf ihn geht die pietistische Hahn’sche Gemeinschaft zurück. (Bild: Landesmedienzentrum BW/Stuttgart) - klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern Vom kleinen Sindlingen aus hat Michael Hahn (1758 - 1819) große Wirkung entfaltet. Hier verfasste er seine tiefsinnigen Schriften. Die nach seinem Tode herausgegebenen 15 Bände umfassen etwa 16 000 Seiten, darunter sind rund 2 000 Lieder mit über 10 000 Versen. Mit ihnen hat der Bauernsohn aus Altdorf, der nie eine höhere Schule besuchte, vieles zur geistlichen Prägung Württembergs beigetragen.Michael Hahn ist aber nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit - seine Gedanken und Überlegungen sind erstaunlich zeitgemäß: So hat er etwa bereits vor 200 Jahren, als es das Wort „Umwelt" noch überhaupt nicht gab, Überlegungen über einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur angestellt („Der von Gott entfernte Mensch treibt Raubbau mit der Natur"). Als das Wort von der „multikulturellen Gesellschaft" noch gar nicht erfunden war, war ihm bereits der brüderliche Umgang aller Menschen miteinander wichtig. Mit seiner lebenslang entschieden vertretenen Auffassung von Gewissens- und Entscheidungsfreiheit des Menschen hat er den Weg in die Moderne gebahnt und mit seinen Überlegungen über ein vom Glauben her geprägtes („geheiligtes") Leben ist er bis heute aktuell. Bild: Mitten in Altdorf, neben dem Rathaus und der Kirche, befindet sich das Geburtshaus von Michael Hahn. Seit seinem 200. Geburtstag erinnert eine Gedenktafel an den bedeutendsten Sohn der Gemeinde. Johann Michael Hahn wurde am 2. Februar 1758 in Altdorf geboren. Seine Mutter starb früh, der Vater und dessen zweite Frau konnten mit dem stillen und klugen Kind nichts anfangen. Eine Metzgerlehre, zu der ihn der Vater zwang, muss für den hochsensiblen Jungen eine Qual gewesen sein - er brach sie ab und verließ das Elternhaus. Nach dem Tod der Stiefmutter 1780 kehrte Hahn nach Altdorf zurück. Er war sich jetzt seiner Berufung gewiss und sprach in den örtlichen „Privatversammlungen". Bald stellten sich Zuhörer auch von auswärts ein. Altdorf wurde „zur heiligen Mitte Württembergs" und Menschen nahmen bis zu zwölfstündige Fußmärsche auf sich, nur um ihn zu hören. Das blieb nicht verborgen. Wegen seiner unangepassten Frömmigkeit war er lange einem geradezu schikanösen Umgang der kirchlichen Behörden ausgesetzt. Hahn zog sich schließlich im Jahre 1794 nach Sindlingen zurück, das damals - staatsrechtlich betrachtet - Ausland war. Württembergische Kirchen- und Landesbehörden konnten ihm dort nichts anhaben. Zudem hielt dort die fromme Franziska von Hohenheim, die zweite Frau von Herzog Karl Eugen und selbst eine Pietistin, ihre schützende Hand über ihn.Hahns gedankentiefe Werke sind nicht einfach zu verstehen. Nach zwei „Zentralschauen", die ihn nach eigenem Bekunden „in die innerste Geburt und allen Dingen ins Herz" sehen ließen und nach einem langen Nachdenke- und Lernprozess, schrieb er ab etwa 1813 eine Zusammenfassung seiner Gedanken und Erfahrungen. Die Bibel ist für ihn ein lebendiger Organismus, der Mensch soll sie nicht nur wörtlich, sondern auch „mystisch" verstehen, fühlen, was er aus ihr weiß; das Wissen um Gott soll wachsen und reifen. Das „theosophische Verstehen" der Schrift zeigt die Vielfalt der Werke Gottes: Jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch ist von Gott (brüderlicher Umgang miteinander ist daher selbstverständlich), umgekehrt sind sie alle nur ein Teil der Gesamtheit des von Gott Geschaffenen. Der Abfall des Menschen von Gott ist schuld am Chaos auf der Erde, der Mensch ist des Menschen Wolf. Aus Selbsterkenntnis, Glaubenserfahrung und Sehnsucht wächst die Wiedergeburt. Der Fromme hat Teil an der ersten Auferstehung, er bleibt - wie Christus - nur drei Tage im Tod. Die anderen Seelen müssen nach dem Sterben einen längen Weg der Läuterung gehen; erst dann wächst auch bei ihnen die Erkenntnis und sie finden ebenfalls heim. In Sindlingen konnte Hahn ungestört nachdenken und schreiben. Dem zeitlebens Unverheirateten (noch auf seinem Grabstein steht das Wort „ledig") standen Anton Egeler (1770 bis 1850) aus Nebringen und Johann Martin Schäffer (1783 bis 1851) aus Unterjettingen zur Seite. Sie sind darum in das berühmt gewordene Fünf-Brüder-Bild aufgenommen worden. So wie zuvor Altdorf wurde nun Sindlingen von immer mehr Menschen aufgesucht. Hahns Ansprachen lockten Tausende herbei. Daneben übte er eine ausgedehnte Seelsorge, schrieb viel und korrespondierte viel mit führenden Pietisten. Aus der Gruppe seiner Freunde ist die heute noch in ganz Württemberg anzutreffende Hahn'sche Gemeinschaft hervorgegangen. Um 1815 zählte sie 10 000 bis 15 000 Mitglieder, heute werden zu dem 1874 auch formell gegründeten Verband etwa 370 örtliche Gemeinschaften mit rund 5000 Besuchern gerechnet. Sie sind vor allem im Schwarzwald, im Remstal und auf den Fildern anzutreffen - außerdem im Gäu: Der Gemeinschaftsbezirk Herrenberg zählt immerhin noch neun örtliche Gemeinschaften mit regelmäßigen Zusammenkünften. In ihnen wird zuerst die Bibel gelesen, daneben spielen die Schriften und das „Liederkästlein" von Hahn eine beherrschende Rolle, ferner die Schriften und Predigten Oetingers.
Bild: Grab Johann Michael Hahns auf dem Friedhof in Sindlingen. (Foto: Ev. Kirchengemeinde Unterjettingen). Auf dem Grabstein steht die Inschrift: | ||||
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Gäuboten.
Der Autor Hans-Dieter Frauer ist Journalist in Herrenberg, arbeitet für den Evangelischen Pressedienst Südwest und ist ein ausgewiesener Kenner der württembergischen Kirchengeschichte. Im Verlag der Liebenzeller Mission erschien sein Buch „Der breite und der schmale Weg – Pietismus in Personen“, Bad Liebenzell 2003, (ISBN 3-921113-64-4). Begleitend zur Ausstellung „Der breite und der schmale Weg – Pietismus auf Schwäbisch“, die vom 16. Juli – 3. Oktober 2004 in der Deckenpfronner Zehntscheuer zu sehen war, veröffentlichte er im „Gäuboten“ eine Serie über den „Pietismus im Gäu“.
Gemeinde Altdorf Ev. Kirchengemeinde Unterjettingen Diese Seite drucken |
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