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„Das war die Lebensader“:
Mit der Bahn zur Arbeit Quelle: Gleisgeschichten – 100 Jahre Schönbuchbahn. Hrsg. vom Landkreis Böblingen, 2011, S. 49 – 61Autorin: Dr. Helga Hager | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Bild: Die Schönbuchbahn bei Weil. (Aus: Gleisgeschichten – 100 Jahre Schönbuchbahn, Böblingen 2011, S. 48) – Klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern Der Ansturm auf die neu eröffnete Schönbuchbahn war groß. Bereits einen Tag nach der Einweihung des ersten Streckenabschnitts nach Weil im Schönbuch reichten die Karten nicht mehr aus, wie der „Böblinger Bote“ vom 17. Oktober 1910 berichtet:„Als Beweis für die Notwendigkeit und die Frequenz der Bahn ist u.a. der Umstand anzuführen, daß auf der Station Holzgerlingen der Vorrat an Fahrkarten nach Weil im Schönbuch, der wohl auf Monate berechnet war, schon am ersten Tag nachmittags 2 Uhr verkauft war und die Fahrgäste sich mit ‚Hundefahrkarten‘ begnügen mußten.“
Die Zeitung listet imposante Verkaufszahlen für den 16. Oktober 1910 auf:
Bild links: Daimler-Benz-AG Sindelfingen, 1920er Jahre (Bild: STA Sindelfingen) – Klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern „... brechend voll“Die Erfolgsgeschichte setzte sich – unterbrochen von Kriegs- und Krisenzeiten – in den folgenden Jahrzehnten fort.2* „Das war die Lebensader“, erinnert sich der 1924 geborene Kraftfahrzeugmechaniker und ehemalige Daimler-Arbeiter Eugen Laib aus Weil im Schönbuch. Die Züge seien zu den Hauptverkehrszeiten meistens „brechend voll“ gewesen, sowohl zu seiner Jugendzeit als auch später, in den 1950er Jahren. „Wir Junge sind meistens gestanden, da hat sich niemand getraut, einen Erwachsenen stehen zu lassen.“ Nicht nur Altdorfer, sondern auch Hildrizhausener stiegen in Holzgerlingen zu. Mitte der 1950er Jahre verkaufte der Holzgerlinger Bahnagent etwa 400 Wochenfahrkarten, davon allein 300 für die Strecke nach Sindelfingen.3* Aus Dettenhausen kamen ebenso viele Pendler nach Sindelfingen.4* Das Daimler-Werk beschäftigte bereits 1950 über 7.000 Arbeiter und Angestellte aus dem gesamten Kreis Böblingen.5* Doch war das Automobilunternehmen keineswegs der einzige Arbeitgeber; daneben existierte noch eine Reihe mittelständischer Betriebe. So arbeiteten etwa einige Dettenhäuser bei der Maschinenfabrik Reinhardt.6* Bild rechts: Eugen Laib aus Weil im Schönbuch fuhr viele Jahre mit der Schönbuchbahn „zum Daimler“ nach Sindelfingen. (Foto: privat, aus: Gleisgeschichten – 100 Jahre Schönbuchbahn, Böblingen 2011, S. 50) Eugen Laib ist zusammen mit fünf Geschwistern in einem Schreinerhaushalt in Holzgerlingen aufgewachsen; er lebt seit 1974 in Weil im Schönbuch. Seine berufliche Laufbahn ist von Anfang an mit der Bahn verbunden: 1939 beginnt er eine Lehre beim Autohaus Höfle in Sindelfingen und setzt diese kriegsbedingt in Stuttgart bei der Schwabengarage fort. 1950 wechselt er zu Daimler und war dort zunächst im Omnibusbau und später im Entwicklungsbereich tätig. Auch sein Vater ist lange Zeit nach Stuttgart gependelt.„... jeder hat seinen Platz g’het“ Die Daimler-Arbeiter erreichten Sindelfingen ohne Umstieg.7* Die Fahrzeiten waren auf die jeweiligen Schichtzeiten abgestimmt. Der erste Zug fuhr im Sommer 1951 um 4.40 Uhr von Dettenhausen ab und kam um 5.34 Uhr in Sindelfingen an; der letzte ging um 23.35 Uhr in Sindelfingen ab und erreichte Dettenhausen um 0.25 Uhr – siehe auch Fahrpläne im Anhang. Die Zugfahrt verlief trotz der räumlichen Enge recht gesellig, ja sie erweiterte die sozialen Kontakte über das eigene Lebensumfeld hinaus: „Das war klasse, jeder hot seinen Platz g’het, seinen Stammplatz. Die eine hend Karte g’spielt, die andre hend erzählt, vom Geschäft, vom Fußball oder was ebe grad aktuell war. Es war lustig, das war schon unterhaltend. Mir hend auch g’sunge: ‚Hoch auf dem gelben Wagen’, Gassenhauer eben ...“
Wenn „jemand Fremdes“ zugestiegen ist, dann sei es schon mal vorgekommen, dass man ihn gebeten habe, auf die andere Seite zu sitzen, um das gewohnte Gefüge zu bewahren. Die wenig komfortablen, gelb gestrichenen Holzbänke mit den steil aufgerichteten Latten-Lehnen taten der Unterhaltung keinen Abbruch. Apropos Kartenspiel: Wenn die Partie Binokel bei der Ankunft in Sindelfingen noch nicht zu Ende gespielt gewesen sei, so erinnert sich Ernst Hagenlocher aus Dettenhausen (geb. 1935), habe jeder seine Karten „in Sack g’schobe“ und auf der Heimfahrt wieder hervorgeholt. Er fuhr seit seiner Lehre als Karosserieschlosser zu Daimler nach Sindelfingen. Im „Zügle“, das zur Hauptschicht elf Waggons umfasste, sei immer etwas geboten gewesen. Zum Jahresausklang spielten sogar einige Fahrgäste mit ihren Ziehorgeln auf.8* Übrigens habe es durchaus mal vorkommen können, dass die Fahrt länger dauerte als fahrplanmäßig vorgesehen: „Wenn dr Heizer verschlofe ist, no hot’s sei könne, dass ’it nuff g’langt hot uff Weil, dass ma au mol unterwägs g’stande ist.“9* Bild: Arbeiterwochenkarte von Karl Preisendanz aus Weil im Schönbuch. (Aus: Gleisgeschichten – 100 Jahre Schönbuchbahn, Böblingen 2011, S. 53) - – Klicken Sie in das Bild, um es zu vergrößern ... nach Vaihingen, Stuttgart und RenningenViele Mitfahrer, so Eugen Laib, seien zu seiner Zeit nach Vaihingen und Stuttgart oder nach Renningen weitergefahren; der Frühzug in die Landeshauptstadt ging ebenfalls direkt.10* Frühere Generationen von Auspendlern – etwa Dettenhäuser Maurer – legten die Strecke nach Stuttgart noch per pedes zurück: am Sonntagabend hin und am darauffolgenden Samstag wieder nach Hause; demzufolge waren sie gezwungen, am Arbeitsort zu übernachten.11* Übrigens wirkten sich Verspätungen der Bahn in den 1950er Jahren, in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, nicht negativ auf das Zeitkonto der Daimler-Arbeiter aus: Die fehlenden Minuten wurden automatisch vom Unternehmen ausgeglichen.12* Ein eindrückliches Erlebnis in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist Eugen Laib noch lebhaft in Erinnerung: „Des weiß i no wie heit: Mir sind heimg’fahre, obends, und da kam dr Eugen Laib in den Zug – er hot auch so g’heiße wie i –, das war a Schmied in der Eberhardstroß’. Der ist an dem Tag heimkomme von dr G’fangenschaft –, und a Woch’ vorher hot mr seinen Vater begraben! Und no hot ma dem g’sagt: ‚Du, Eugen, letzte Woch’ hend mr Deinen Vater begrabe!’ Des hot der no gar net g’wusst.“
„... um einiges schneller zu Hause“ Der Wirtschaftsaufschwung brachte den Daimler-Arbeitern die Möglichkeit, günstig einen Jahres- bzw. einen Halbjahreswagen zu erwerben. Für ihn, so Eugen Laib, sei eine solche Anschaffung jedoch in den 1950er Jahren noch nicht möglich gewesen: „Ich hon fünf Kinder aufziehe müsse, do hon i alle Händ’ voll z’du g’het, und mei Frau hot Heimarbeit g’macht, damals, beim Binder“. Gleichwohl stieg Eugen Laib bereits vor der Einstellung des Personenzugverkehrs im Jahre 1965 – „der Bequemlichkeit halber“ – aufs Auto um. Zunächst fuhr er im Pkw seines Arbeitskollegen mit, später bildete er mit seinem eigenen Pkw, einem gebrauchten Opel, eine Fahrgemeinschaft mit anderen Holzgerlingern. „Mr war ebe schneller daheim, und mr hot später wegfahren könne als wie mit dem Zug. Der Verkehr war no net so dicht wie heut’.“
Man habe 20 bis 25 Minuten gebraucht mit dem Auto. Zum Bahnhof dagegen habe er allein zehn bis fünfzehn Minuten laufen müssen, außerdem hätten bei der Rückfahrt die jeweiligen Wartezeiten die Fahrzeit noch einmal verlängert. Er sei abends bereits zuhause in Holzgerlingen gewesen, wenn der Zug in Sindelfingen erst abgefahren sei. Überdies habe man mit dem Auto noch die eine oder andere Besorgung erledigen können. Im Laufe der Zeit stand bei Eugen Laib, der 36 Jahre „beim Daimler“ arbeitete, auch ein Jahreswagen in der Garage. Diese Wartezeiten kamen auch dadurch zustande, dass die Wochenarbeitszeit von ehemals 48 Stunden über die Jahre kontinuierlich verkürzt, der Zugfahrplan jedoch nicht entsprechend angepasst wurde.13* „Es war eine Gemeinschaft“ Im Rückblick klingt bei Eugen Laib ein wenig Wehmut an: Er wiegt den Gewinn an Zeit durch das individuelle Verkehrsmittel gegen den Verlust an Begegnungen beim Zugfahren auf: „I moin, die Kameradschaft hot d’runter g’litte, sie ist verlore gange. Manchmal hot einem do was g’fehlt. Wenn mr do in de Zug neikomme ist, hot mr viele kennt, auch aus de andere Dörfer: ‚Ja wie, wo ist denn der Karle, hot der Urlaub oder ist’r krank?‘ – Es war eine Gemeinschaft.“
So war also die Schönbuchbahn in jenen Jahren nicht nur ein Transportmittel, sondern auch ein besonderer Ort der Kommunikation: Weit über die jeweiligen Ortsgrenzen hinweg wurden hier persönliche Verbindungen geknüpft, die die Schönbuchregion – im wahrsten Sinne des Wortes – enger miteinander vernetzt haben. Apropos: Wenn Eugen Laib heute zur Arbeit fahren müsste, würde er – mit Blick auf die gegenwärtige Verkehrssituation – die Bahn wählen. „Das ist eine noble Sache!“ Bild: Ella Wörn (Foto aus dem Jahre 1942) fuhr während des 2. Weltkrieges mit der Schönbuchbahn von Weil nach Sindelfingen. „Die hend ebbes verdiene welle“Auch jungen Frauen eröffnete die Schiene eine Berufstätigkeit außerhalb des Heimatdorfes, wie Ernst Hagenlocher und seine Schwester Margarete Zimmermann (geb. 1928) berichten: „Zur Hautana [Trikotweberei Ludwig Maier] nach Böblingen, da sind viele nagange. Und noch Schönaich, in Stumpe [GESKA Stumpenfabrik14*]. Die sind uffem First umg’stiegen. Manche sind auch nach Vaihingen, zu Kautt & Bux, des war a Bakelit-Fabrik. Die hend ebbes verdiene welle; es war egal, was es ist, do hot ma’s könne ’it raussuche.“ Nur wenige unter den Pendlerinnen fuhren „ins Büro“ wie etwa Rosa Fischer aus Dettenhausen, die zuletzt in der Verwaltung der amerikanischen Streitkräfte in Böblingen beschäftigt war. Ella Wörn aus Weil im Schönbuch absolvierte während des Zweiten Weltkrieges eine Lehre als Schneiderin in Sindelfingen. Dabei verlief die Zugfahrt teilweise recht aufregend: Bei Bombenalarm mussten die Fahrgäste aussteigen und zum nächstgelegenen Bunker laufen, an manchen Tagen fiel der Zug zeitweise aus oder fuhr nur auf bestimmten Streckenabschnitten, so dass sie des Öfteren zu Fuß nach Hause gelaufen ist. Während des Krieges, so erzählt Ella Wörn, seien viele Frauen aus den Anliegerdörfern ins Daimler-Werk gefahren: Sie mussten die eingezogenen Männer in der Produktion ersetzen. Manche hätten während der Fahrt gestrickt, falls Licht vorhanden gewesen sei; sie selbst dagegen habe gestickt, da dies zu ihrer Ausbildung gehörte. „... zur Schuhfabrik in Böblingen“ In der Frühzeit der Schönbuchbahn waren die Ziele der Pendler noch breiter gestreut. Viele Handwerker fanden in den 1920er und 1930er Jahren eine Beschäftigung in Böblinger Fabriken. So verdiente etwa der gelernte Schuhmacher Willy Neuffer (geb. 1908) aus Holzgerlingen – wie auch etliche seiner Altersgenossen – sein Brot bei der Schuhfabrik Wanner in der Wilhelmstraße nahe des Bahnhofs.15* Auch das Böblinger Baugewerbe zog Pendler an: Nicht wenige Dettenhäuser arbeiteten bei den beiden Bauunternehmen Kopp und Kohler.16* Viele Weilemer waren bei der Dampfziegelei in der Nähe des Südbahnhofs beschäftigt.17* 1923 pendelten aus Schönaich täglich 67, aus Holzgerlingen 82 und aus Weil im Schönbuch 58 Berufstätige nach Böblingen.18* Der größte Teil der Pendler allerdings fuhr zu diesem Zeitpunkt nach Stuttgart: aus Schönaich 120, aus Holzgerlingen 115, aus Weil im Schönbuch 154 und aus Dettenhausen 89.19* (…) Welche Bedeutung die Schönbuchbahn für die Bevölkerung hatte, die zu einem guten Teil noch Landwirtschaft im Nebenerwerb betrieb, zeigt insbesondere ein Spruch aus Dettenhausen: „Wer nicht im Steinbruch schaffte, ging auf den Zug“, hieß es hier. So kommt denn auch die Verbundenheit der Bevölkerung mit der Eisenbahn etwa darin zum Ausdruck, dass sich in den Jahren 1948 bis 1950 jedes Jahr spontan jeweils sechs Dettenhäuser bereit erklärten, im Winter Schneeverwehungen von den Gleisen zu räumen: Sie schaufelten sich im wahrsten Sinne des Wortes den Weg zur Arbeit frei.20* Von jener Zeit, in der die Bahn buchstäblich die dörflichen Grenzen sprengte und die Tür zu Verdienst und persönlichem Fortkommen öffnete, sei noch einmal ein Schwenk auf die Endphase gemacht. Bild: Ernst Hagenlocher stammt aus einer Eisenbahnerfamilie aus Dettenhausen (Foto: privat, aus: Gleisgeschichten – 100 Jahre Schönbuchbahn, Böblingen 2011, S.52) „... uff jeden Zug en Omnibus“Ernst Hagenlocher, der auf dem Bahnhof in Dettenhausen aufgewachsen ist und bereits in jungen Jahren sein Herz für die Eisenbahn entdeckt hat, fuhr bis zur Einstellung der Schichtzüge mit der Bahn zu Daimler.21* Die damalige Bahnpolitik der „Verkraftung“ des Personenverkehrs22* sah er kritisch: „Und no hend se uff jeden Zug en Omnibus laufen lou, die hend sich selber hie g’macht. Und komischerweise: Der Omnibus hot de Fahrplan g’het wie de Zug, aber der Zug war immer schneller.“ Notgedrungen stieg er auf die „Schönbuch-Perle“ des Busunternehmes Löffler um: „Des Busfahre, des war Stress.“ Im Winter habe man in den klapprigen Fahrzeugen gefroren, überdies sei man gezwungen gewesen, beinahe während der ganzen Fahrt zu stehen. Nicht zufällig war für den ‚Eisenbahner‘ Ernst Hagenlocher die Reaktivierung der Schönbuchbahn mit besonderen Erwartungen verbunden. „Mir hend a riesige Freid g‘het, als d’Schönbuchbahn komme ist. Do hot mr in Böblinge au no gut eikaufe könne. Seit die Bahn fährt, bin ich nicht mehr mit em Auto nach Stuttgart g’fahre.“
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Der Text wurde gekürzt. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin Die Autorin, Dr. Helga Hager, ist Kreisarchivarin des Landkreises Böblingen. Die Landesschau unterwegs zeigte am 18. 6. 2012 den Film "Auf der Erfolgsschiene - die Schönbuchbahn", den Sie in der Mediathek des SWR ansehen können. In der 2011 erschienen Festschrift „Gleisgeschichten – 100 Jahre Schönbuchbahn“ wurde nicht nur die Geschichte der Schönbuchbahn aufgearbeitet, es versammelt auch eine Vielzahl von Geschichten und Erinnerungen, die sich um die Menschen und ihr „Zügle“ drehen. Eine davon schrieb die in Holzgerlingen geborene Helga Zaiser: „... ließen uns den Fahrtwind um die Nase wehen“. Mit dem Daimlerzügle in die Oberschule Weitere Artikel zur Eisenbahngeschichte im Kreis Böblingen auf zeitreise-bb finden Sie hier:
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